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Dass die Beziehung eines Künstlers zu einer Galerie über einundvierzig Jahre Bestand hat, intensiv und lebendig, ist selten. Die ausserordentliche und ungewöhnliche Künstlerpersönlichkeit von Richard Tuttle hat in unserem Falle einen spannenden gemeinsamen Weg ermöglicht und immer für genügend Anregung und Aufregung gesorgt. Sein künstlerisches Schaffen entzieht sich einer voraussehbaren Einordnung und lässt kaum Gewöhnung oder Gewohnheit aufkommen.

Vom 17.Mai bis zum 28. Juni 1974 waren in unserer damaligen Galerie an der Mühlegasse die «Heavy Wire Pieces» ausgestellt, oder besser, die Werke übernahmen die Möglichkeiten dieser Räume und es entstand für einige Wochen eine selbstverständliche und ganz besondere Verbindung und Korrespondenz zwischen der Werkgruppe und den autonomen Einzelstücken. Diese erste Ausstellung von Richard Tuttle in unserer Galerie blieb das Modell für die vielen nachfolgenden Ausstellungen auch an weiteren Galeriestandorten.

Als besondere und gewichtige Wegmarke in unserem Arbeitsverhältnis mit Richard Tuttle muss das Jahr 1976 hervorgehoben werden. Richard betraute uns damit, 289 Zeichnungen von 1968 bis 1976 zu verwalten. Er traf diese Entscheidung im Anschluss an unseren Besuch in New York. In seiner kleinen Wohnung, die ihm auch als Studio diente, hingen die Zeichnungen an den Wänden und sie lagen auf dem Fussboden. Die Fülle und das Chaos visualisierten den Umstand, dass das Zeichnen ihn ständig in Anspruch nahm (was bis heute so geblieben ist) im Studio und auf seinen vielen und ausgedehnten Reisen, und dass hier gleichsam das Epizentrum des künstlerischen Prozesses zu lokalisieren ist. Die Wertschätzung für die Zeichnungen, aber auch Verschleiss und Gefährdung, denen sie ausgesetzt waren, bewegten Richard dazu, den gesamten Studiobestand aus den Händen zu geben. Kurz vor Jahresende sichteten und ordneten wir gemeinsam mit ihm in Zürich die Blätter und erstellten die «List of Drawing Material of Richard Tuttle», welche vervielfältigt und im Januar 1977 einem kleinen Personenkreis zugänglich gemacht wurde. Jedes Blatt wurde genau beschrieben, Entstehungsjahr, Technik, Massangaben wurden festgehalten und es erwies sich, dass nach 1975 zu den «Center Point Works» weitere präzise Angaben notwendig waren: «Center point drawings to be placed in center of wall at a specified point (height), using a specified means of hanging.»

Die gründliche Beschäftigung mit den Zeichnungen, die wir mit Richard Tuttle vornehmen durften, machte deutlich, dass hier ein einzigartiges zeichnerisches Werk vorlag, mit eigenen Regeln, eigenen Formen, eigenen Konventionen.

Die rührige Kunstkritikerin Dr. Maria Netter vermittelte die Ausstellung einer Auswahl von 100 Zeichnungen des Konvoluts an die Basler Kunsthalle, welche, kurzfristig anberaumt, vom 11. Juni bis 11. September 1977 stattfand. Ein kleiner Katalog wurde gedruckt und die eindrückliche Ausstellung fand grosse Beachtung. Anfangs 1979 erfolgte die Publikation des Buches «List of Drawing Material of Richard Tuttle & Appendices». Es enthält ganzseitige Abbildungen sämtlicher Zeichnungen mit detaillierten Werkangaben, den Abdruck der Liste von 1977 und interessante Textbeiträge. Bis heute ist das Buch das Standardwerk zur Genese der Tuttle-Zeichnung.

Die Erarbeitung der Liste und die Zusammenstellung des Buches zeigte uns, dass abgesehen von einer Anzahl markanter und zumeist früher Blätter, die nicht in dieses Schema passen, eine Ausgangssituation beachtet werden kann, die das Oeuvre strukturiert: Die Zeichnungen sind in kleineren oder grösseren Gruppen zusammengefasst, oftmals mit einem gemeinsamen Titel versehen, manchmal als «Series» bezeichnet. Es handelt sich nie um Skizzenblätter oder Entwürfe. Der verwendete Zeichnungsblock oder das Zeichnungsbuch sind die Vorgabe für die Grösse und die Papierbeschaffenheit, aber auch für die Abfolge und die Sequenzen des zeichnerischen Geschehens. So steht ein Behältnis zur Verfügung, das Raum, Tiefe und Zeit evoziert. Damit ermöglichen sich die Zeichnungen gegenseitig durch einen gemeinsamen Klang und eine selbstgeschaffene, spannungsvolle Kohärenz.

Bis heute hat Richard Tuttle in dieser Weise sein zeichnerisches Werk fortgesetzt. Besondere Beachtung erfährt dabei die Rahmung und die Präsentation der Zeichnungsgruppen. Aus kleinen Einheiten entstehen gewichtige Werke. Bedeutende Beispiele aus den letzten Jahren sind in unserer Ausstellung zu sehen. Sie soll an ein Stück Geschichte unserer Galerie erinnern.

Am 21.Januar 2016 werden wir das neue Buch «Agnes Martin Religion of Love Richard Tuttle Illustration» mit einer Lesung in der Galerie vorstellen. Ein weiterer Hinweis folgt.