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Sandra Schäfer
Kontaminierte Landschaften
11. 12. 2021 – 27. 2. 2022

Bald nachdem der deutsche Fotograf August Sander 1910 sein Kölner Atelier gegründet hatte, reiste er regelmäßig in den nahe gelegenen Westerwald, um dort über vier Jahrzehnte zu fotografieren. Das so entstandene, 2 500 Negative umfassende und ursprünglich als »Bauernarchiv« bezeichnete Konvolut, das sich heute mit dem gesamten Nachlass Sanders in der Photographischen Sammlung der SK Stiftung Kultur in Köln befindet, umfasst zahlreiche Gruppen- und Einzelporträts, aber auch Landschaftsaufnahmen, und weist viele Verbindungen zu dem von ihm ab den 1920er-Jahren begonnenen Projekt Menschen des 20. Jahrhunderts auf, das letztlich seine Bedeutung für die Fotografiegeschichte begründete.

Die Wege der Familie der Künstlerin Sandra Schäfer und die des berühmten deutschen Fotografen kreuzen sich in dieser geografischen Region Deutschlands, einer ländlichen Region, geprägt von bäuerlicher Kultur und Bergbau. In einem Album des Großonkels der Künstlerin taucht auf der Rückseite einer Fotografie der Name Hilgenroth auf; dieser Ort befindet sich ganz in der Nähe von Kuchhausen, wo Sander ab 1944 bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1964 lebte.

Auch die Familie der Künstlerin wurde von Sander fotografiert, diese Aufnahmen befinden sich bis heute in Privatbesitz. Ein Kanal des Videos Westerwald – Eine Heimsuchung (2021) zeigt Besuche von Schäfer bei Verwandten und Nachbarn, um über diese Bilder zu sprechen, wie sie entstanden, was sie bedeuteten. Viel ist von Landschaft und vom Wald die Rede, oftmals sind die Porträts im Freien entstanden, jedoch immer für die Kamera gestellt. Auch die Landschaften, die Sander ins Bild setzt, scheinen von körperlicher Arbeit geprägt, durch die Felder, die zu sehen sind. Heimsuchung ist dabei mehr als zweideutig zu verstehen. Was verbindet die Künstlerin noch mit diesem kulturellen und sozialen Milieu, dem sie vielleicht zu entkommen suchte? »Wir sind so sehr Produkte der Ordnung der sozialen Welt, dass wir sie am Ende selbst reproduzieren: Noch wenn man sie anklagt oder auf einer anderen Ebene dafür kämpft, dass sie sich ändert, bestätigt man ihre Legitimität und Funktion«, schreibt Didier Eribon. Wir werden also von denjenigen Geistern heimgesucht, die als unterdrückte und verdrängte Erinnerungen ein untotes Leben in Verschwiegenheit führen und die lediglich als fehlende Bilder in Fotoalben »sichtbar« werden. Diese Geister führen aber ein Doppelleben, sie sind auch diejenigen kollektiver Traumata und Wünsche nach Vergessen oder Veränderung. Nach dem Krieg waren alle mit Überleben beschäftigt und wollten den Krieg hinter sich lassen, heißt es in einer Stelle im Video. Die Ausstellung Kontaminierte Landschaften projiziert diese Lücken und Geister nach draußen, in die Öffentlichkeit, die im Westerwald hauptsächlich als Landschaft erlebbar war und ist. Damit erarbeitet Schäfer aber auch eine andere Form von Sichtbarkeit für diese privaten wie kollektiven Fehlstellen und auch für die Vorstellung über diese Landschaft: Der zweite Kanal des Videos zeigt die monokulturelle und automatisiert-vernetzte Landwirtschaft der Gegenwart, die die Albumbilder von Viehmärkten, die Landschaften von Sander sowie die Porträts »der Bauern« als etwas erscheinen lassen, das heute nur mehr von der Tourismuswerbung ausgebeutet wird. Es dreht sich also alles um Fragen der Repräsentation: Wer zeigt und was soll eigentlich gezeigt werden und wie haben sich die Kontexte dieses Zeigens verändert? Die Sander’schen Familienporträts präsentieren die Familien ja nicht zufällig am Hof zusammengekommen, sondern in Sonntagsgewändern arrangiert. Ein bürgerliches Bildverständnis überschreibt dabei schon immer die bäuerliche Kultur. Aufnahmen von Feld- oder Stallarbeit existieren so gut wie gar nicht, selbst die späteren Jungbauern sind auf dem Weg zu einem Kirchtag im Sonntagsstaat.

Wir müssen erkennen, dass ein auch dokumentarisch verstandenes langjähriges fotografisches Vorhaben wie dasjenige von August Sander im Westerwald eigentlich keine Bilder dieser Realität liefert, sondern diese einem bereits existierenden Bildregime unterwirft. Walter Benjamin hat in den 1920er-Jahren äußerst kritisch auf diesen Umstand hingewiesen: »Sie [die Neue Sachlichkeit] wird immer nuancierter, immer moderner, und das Ergebnis ist, daß sie keine Mietskaserne, keinen Müllhaufen mehr photographieren kann, ohne ihn zu verklären. Geschweige denn, daß sie imstande wäre, über ein Stauwerk oder eine Kabelfabrik etwas anderes zu sagen als dies: die Welt ist schön. […] Es ist ihr nämlich gelungen, auch noch das Elend, indem sie es auf modisch perfektionierte Weise auffaßte, zum Gegenstand des Genusses zu machen.«

Doch auch die Familienalben erweisen sich nicht unbedingt als »Gegenarchiv« zu dieser Art ästhetischem Genuss, der die soziale Realität in eine formale Gestaltung des Bildes übersetzt oder diese dadurch überschreibt. Auch dort kommt Alltag kaum vor. Über Porträts möchten Personen erinnert werden. Auf Reisen entstehen Stadt- und Landschaftsansichten, zumeist menschenleer; die erste Fahrt auf der Autobahn wird dokumentiert. Viele Gruppenporträts entstehen zu besonderen Anlässen, bei Familienfeiern, Kirchtagen oder etwa Gemeindefesten. Uniformen und Hakenkreuze tauchen auf und verschwinden wieder. Lediglich ein zunächst zerstörtes Album des Großvaters der Künstlerin, das einen Heimatempfang von Soldaten dokumentiert und aus Fotografien von Herbert Ahrens aus dem Mai 1943 besteht, zeigt auf ein paar Fotos eine Menschenmenge und Aufnahmen, die als Schnappschüsse bezeichnet werden könnten. Die Aufnahmen der restlichen Alben sind merkwürdig konstruiert, wie wir es natürlich auch aus unseren eigenen Familienalben kennen. Die Geister sind also nicht aus diesen Archiven verschwunden, im Gegenteil. Vielleicht sind gerade sie es, die diese Inszenierungen erzwingen und Veränderung erschweren, dafür aber soziale Stabilität zu garantieren scheinen.

Und auch die Reise der Künstlerin in die Region ihrer Kindheit bringt diese Geister nur mit Mühe zutage. Ausschnitthaft werden Innenräume oder die nähere Umgebung von Gebäuden beziehungsweise Bauernhöfen gezeigt, Gärten, vorbeifahrende Traktoren. Die Personen, die über Porträts ihrer Familie von August Sander sprechen, werden nur über ihre Gesten im Umgang mit den Bildern gezeigt. Ein Wald, der im Hintergrund einer Aufnahme von August Sander zu sehen ist, taucht auch im Video von Schäfer auf, ist mittlerweile allerdings einem Sturm zum Opfer gefallen. All dem sind Besuche im Museum Ludwig in Köln vorausgegangen, in der Stiftung Ann und Jürgen Wilde der Pinakothek der Moderne in München sowie im Museum Folkwang in Essen, um verschiedene Originale von Sander zu sichten. Der Untersuchung der Künstlerin liegen diese Begegnungen und Untersuchungen als Versatzstücke zugrunde, aus denen jedoch keine zusammenhängende Geschichte konstruiert werden kann, weil diese im Grunde nie existierte, wie sich bereits an den Fotografien von Sander zeigte: Soziale, ökonomische und kulturelle bis sprachliche Differenzen durchziehen dieses Feld von Geschichte und ihrer Repräsentation bis in jedes einzelne Bild hinein. Selbst Landschaft ist nach wie vor von diesen Fragmenten von Erinnern und Vergessen kontaminiert und von Geistern bevölkert.

Dieser Umstand ist vielleicht zuallererst ein weiteres Beispiel für die Geister der Geschichte der Fotografie selbst. Allan Sekula hat als Ideologie enttarnt, was in Ausstellungsprojekten wie Edward Steichens The Family of Man (ab 1955) als universelle Sprache der Fotografie gefeiert wurde. Für Steichen korrespondierte dieser Universalismus der Fotografie mit einem weiteren Universalismus: »Sie zeigt, daß die fundamentale Einheit menschlicher Erfahrungen, Haltungen und Gefühle vollkommen durch das Medium des Bildes vermittelbar ist. Das besorgte Auge des Bantu-Vaters, das auf seinem Sohn ruht, während dieser lernt, mit seinem primitiven Speer nach Nahrung zu jagen, ist das Auge eines jeden Vaters, sei es in Montreal, Paris oder Tokyo.« Fotografie wäre also in der Lage, kulturelle Differenzen und soziale Unterschiede zu durchdringen, um das eigentliche »Wesen« »des Menschlichen« zu vermitteln. Repräsentation wird hier zu einer zynischen Ethik des fotografischen Bildes, das als visuell-politisches Propagandamaterial den Verkauf von Coca-Cola auf der ganzen Welt ankurbeln soll.

Dieser Anspruch auf kulturellen Universalismus konnte allerdings nicht einmal auf wenigen Quadratkilometern in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingelöst werden. Als seine Frau stirbt, isst Sander bei Nachbarn zu Mittag, am Kopf des Tisches, als einziger auf einem weißen Tischtuch, ein untrügliches Zeichen des sozialen Unterschieds. Wenn also Sandra Schäfer danach fragt, in welcher Art und Weise sich hier verschiedene Felder und Geschichten von Bildern, Wissen, Erinnerung und kulturellem Habitus durchkreuzen, dann lässt sich vielleicht nur feststellen, dass es allein schon schwierig erscheint, die Bruchlinien dieser Durchkreuzungen zu markieren. Und vielleicht sind sie auch gar nicht in den Fotografien selbst zu finden, jedenfalls dann nicht, wenn die Abgebildeten weiterhin das bleiben, was sie immer schon waren: Abgebildete. Ich denke, das gesamte Projekt von Sandra Schäfer lädt ein, darüber nachzudenken, wie sich die Porträtierten in Akteur*innen verwandeln lassen, welchen Anteil sie immer schon an den Bildern hatten, was sie sich durch diese Bilder anzueignen trachteten, wie sie über diese Bilder mit ihrer eigenen Identität verfahren sind und welche Geschichte sie damit zu erzählen – oder zu vergessen – versuchten.

In der Ausstellung sind die Alben als Archiv in Videos zu sehen, in denen die Künstlerin die Seiten der Alben durchblättert. Darüber hinaus sind Gruppierungen der Bilder aus diesen Alben auf zehn Tischen arrangiert. Die Menschen, um die es in diesen Bildarchiven geht, sind also in der Ausstellung äußerst präsent. Zugleich erscheinen sie aber auch als die großen Abwesenden in der Ausstellung, gerade weil sie lediglich über die Bilder präsent sind. Diese ambivalente Erscheinungsform erinnert an Ausstellungen von ehemals völkerkundlichen Museen, in denen ihre Bestände neu veröffentlicht und zugänglich gemacht werden. Es erscheint uns in diesen post-ethnografischen Ausstellungen naheliegend, dass die Abgebildeten durch eine Macht unterworfen wurden, die auch diese Bilder hervorgebracht hat, eine Macht, die wir gewohnt sind, als kolonial zu bezeichnen.

Der vermessende, taxierende und klassifizierende Blick des Kolonialismus hat nichts anderes hervorgebracht als kolonialisierte Körper, Geister, die einer Typologie unterworfen werden, die Gegenstand einer Forschung sind, die jedoch niemals als Subjekte in Erscheinung treten, mit eigener Geschichte und Kultur. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Künstlerin in ihrer Präsentation diese formale Nähe gesucht hat, um uns die Bildarchive des Westerwaldes in neuer Weise fremd zu machen und auch in ihnen nach einer visuellen Macht der Unterwerfung zu suchen. Das Vorhaben von August Sander, ein Fotoalbum der Typologie der deutschen Bevölkerung anzulegen, die berühmten Menschen des 20. Jahrhunderts, weist im Grunde in dieselbe Richtung von Klassifizierungen und Einordnungen, wie auch die Kompositporträts von Francis Galton gut 80 Jahre zuvor.

Das Re-Arrangieren der Bildarchive durch die Künstlerin könnte in die Richtung weisen, den Ordnungen des Archivs selbst entgegenzuarbeiten, Bilder miteinander in Verbindung zu bringen, die in den Alben nicht nebeneinander eingeklebt worden wären. Über die fehlenden Bilder lässt sich nur spekulieren. Am Ende, und das zeigt die Ausstellung von Schäfer eindeutig, geht es nicht darum, eine Ordnung gegen eine andere auszutauschen oder sie gegeneinander auszuspielen, sondern dadurch die Idee der Ordnung selbst zu unterwandern. Wenn alles immer auch anders hätte sein können, dann verliert Geschichte ihre Notwendigkeit, mit der sie sich entfaltet, und wird Gegenstand einer materiellen und politischen Praxis, wie sie unter anderem auch Marx gefordert hat.

Dann aber verschieben sich die Handlungsmöglichkeiten auch in Richtung derer, die sich für ein Bild von Sander in Szene gesetzt haben, und die Autorenschaft Sanders gerät ins Wanken. Die »Heimsuchung« wäre dann in die andere Richtung zu lesen, sie würde es nämlich ermöglichen, den Geistern einen Raum des Erscheinens zuzugestehen, sie in die historischen Aufnahmen hinzuzudenken oder gar hineinzudenken. Dies hat Ariella Azoulay als »civil contract of photography« bezeichnet, um den Anteil derer an der Bildproduktion zu stärken, die auf den Bildern zu sehen sind. Vielleicht besteht in diesem »civil contract« eine Möglichkeit, die Geschichte der Fotografie, die Geschichte der Archive und unsere Rolle in dieser Geschichte (in den Bildern selbst und als Teil der Forschung an den Bildern) fundamental zu entkolonisieren, wenn wir bei Kolonisieren nicht immer nur an ferne Länder denken, sondern sehr grundsätzlich an das Unterworfen-Sein unter verschiedenste Regime, auch unter Bildregime. Und vielleicht ist es gar nicht so weit hergeholt, zu beginnen, über diese Archive und damit auch über uns selbst als in gewisser Weise ebenfalls Kolonisierte nachzudenken.
Reinhard Braun