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SELMA SELMAN
THE MOST DANGEROUS WOMAN IN THE WORLD
12.03.2022 - 21.05.2022

In einem ihrer Selbstporträts auf Altmetall definiert sich Selma Selman als „the most dangerous woman in the world“. Gefährlich für wen? Aufgewachsen in einer Roma-Community in Bosnien-Herzegowina, in ihren Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten extrem durch Rassismus eingeschränkt (ihre Familie lebt vom Sammeln und Recyceln von Metallabfall), zerlegt die Künstlerin heute nicht nur „Autos, Waschmaschinen und das Patriarchat“*, sondern sie greift vor allem die Grenzen des Klassen-Rassismus an. Ob in kraftvollen Performances, in intimen und expressiven Porträts und Selbstporträts oder in der Malerei, die mit Ironie und Humor das Leben der Community, Stereotype und Emanzipation kommentiert, immer ist Selmans Arbeit von enormer Handlungsmacht durchdrungen.

Ihr Statement „Meine Familie verwandelt Metallabfall in eine wertvolle Ressource des Überlebens“ muss über persönliche Erfahrungen hinaus gelesen werden. Selma Selmans künstlerisches Medium, Malerei auf Altmetall, verweist auf die rassialisierten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Roma, die sich im Zuge der kapitalistischen Transition der verarmten Nachkriegsgesellschaft verschlechterten. Wie viele Roma auf dem Balkan hat Selma Selman von Kindheit an in der informellen Ökonomie des Recyclings gearbeitet: Sie unterstützte ihre Familie beim Sammeln von Metallabfall und beim Verkauf an Recyclingunternehmen. Nachdem sie diese total entwertete Arbeit hinter sich lassen konnte, ohne jedoch ihren Kontext zu verleugnen, hinterfragt Selmans künstlerische Praxis Prozesse der Wertproduktion in Bezug auf Arbeit und Arbeiter*innen durch weiße Privilegien und Zugang zu Bildung. „Wir sind Intellektuelle“ malt sie auf ein Autodach. Diese Kritik an einer elitären Auffassung von Wissen(re)produktion ist auch ein affirmatives Statement im Kampf um ein wert- und würdevolles Leben.

Selma Selmans Familie, ihr Handwerk und ihre Fertigkeiten haben eine entscheidende Rolle in ihrer Arbeit als soziale und künstlerische Struktur, als Wissensreservoir, aber auch als Ort von Liebe, Ambivalenz und Komplizenschaft mit der patriarchalen Matrix der Macht. Die Familienmitglieder und ihre Community werden oft porträtiert und sind in ihre Projekte involviert. In ihrer Liebeslyrik, Letters to Omer, die sich an das fiktive männliche Gegenüber Omer richtet, klingen komplexe Ebenen an von Erinnerung, Imagination, „Science-Fiction“, Begehren, Körper, Autonomie, Schmerz, Verletzlichkeit und Stärke.

Fragmente ihrer Poesie werden manchmal in Malerei übersetzt und ihre scharfe und witzige Textproduktion begleitet und erweitert ihre bildnerische Kunst. Das Altmetall spielt eine konzeptuelle Rolle und ist gleichzeitig Material und Objekt. Dabei besetzt die Malerei auf Metall einen Platz zwischen Installation und Malerei. Diese künstlerischen Arbeiten funktionieren gleichsam als Buch, bestehend aus Bildern und Texten präsentiert in einem Raum. Die Videos dokumentieren Performances, in denen sie allein oder mit ihrer Crew Metallobjekte so zerlegt, wie das im Recyclinggeschäft gemacht wird, und damit die kontextuellen Bedingungen der Wertzuschreibung infrage stellt. Dieser Zugang politisiert das Readymade aus einer intersektionalen, klassenkämpferischen Perspektive.

Selma Selmans Text und facettenreiche Kunstwerke in verschiedenen Medien stellen einen genuinen Beitrag zu feministischer intersektionaler Kunst und Literatur dar wie zu zeitgenössischer post-konzeptueller Kunst.

Selma Selmans Malerei auf einem Teil einer alten Waschmaschine mit einem Selbstporträt als attraktive Frau mit einer Axt in der Hand (die sie zu einem Symbol ihrer künstlerischen Praxis macht), fügt ihren Namen zu einer Liste erfolgreicher (männlicher) Genies: „Leonardo da Vinci, Nicola Tesla, Selma Selman“. Sie schreibt sich so in den Kanon von Wissen und Kunst ein, der ihr systematisch vorenthalten wurde. Ihre Performance You have no Idea (2020), in der sie dieses Statement unaufhörlich wiederholt bis sie die Stimme verliert, ist ein performativer Akt, der sie aus der rassistischen Ideologie und deren vorurteilsbeladener Konstruktion von Wissen, herauskatapultiert. Diese Performance, aufgeführt außerhalb des post-jugoslawischen Kontexts im Zuge ihrer Migration in die USA, gewinnt eine weitere Bedeutungsebene im Hinblick auf die soziopolitischen Turbulenzen der letzten Jahre (wie zum Beispiel der Black-Lives-Matter-Bewegung). Wenn sie Superposition (2020) performt, dabei immer wieder den Satz „Verteidige dich selbst, verteidige deinen Körper“ wiederholend, in Kunsträumen, die mehrheitlich von einem weißen bürgerlichen Publikum besucht werden, wird die Wiederholung der Sätze „verteidige die selbst“ und „verteidige deinen Körper“ begleitet von Körperbewegungen, die sie zugleich verteidigen und verletzen. Dadurch wirft sie Fragen auf wie Ambivalenz, Grenzen, Verletzlichkeit, Stärke, schmerzhafte Bloßstellung, Kampf, Durchhaltevermögen – eine Reihe von Emotionen und Strategien, die eine derart politische künstlerische Position und Praxis hervorbringt.

Als couragierte Künstlerin erfindet Selma Selman künstlerische Methoden und Möglichkeiten des Arbeitens für sich, ihre Familie und ihre Community. Wenn auch „nur“ auf der mikropolitischen Ebene der Kommodifizierung künstlerischer Welten, gelingt es ihr doch ungerechte soziale Grenzziehungen zu erschüttern. Darüber hinaus spricht ihre Arbeit auch ihre Community an, die sehr wenig Zugang zu den Ressourcen und Diskursen institutioneller Kunstwelten hat. Durch ihren unermüdlichen Einsatz gegen Ausgrenzung als Frau und als Romni wurde sie zu einem Role Model für viele Mädchen und Frauen in ihrem Umfeld, die sie unterstützt und bestärkt durch Kunst und Aktivismus in ihrem Kampf gegen Unterdrückung und für Unabhängigkeit in der Zukunft. Die kritische Frage, die viele ihrer Kunstwerke indirekt aufwerfen, ist, inwieweit kann diese Migration vom Abfallhandel zur Kunstwelt dazu beitragen, strukturellen Rassismus zu überwinden, und welche Handlungen und Strategien der Solidarität sind dafür notwendig?

Die Einzelausstellung von Selma Selman wurde speziell zum Anlass des 8. März, des Internationalen Frauen*Kampftags organisiert und ist auch ein Beitrag zum 8. April, dem Internationalen Roma Tag. Viele der gezeigten Arbeiten wurden für eine Einzelausstellung in der Nationalgalerie Bosnien-Herzegowinas in Sarajewo 2021 produziert, die Selman zusammen mit der Kuratorin Amila Ramović in den letzten 2 Jahren konzipierte.

Text: Dr.in Ivana Marjanović

* Jelena Prtoric, „Selma Selman is Bosnian Artist breaking down cars, washing machines and the patriarchy“, Calvert Journal, 2020,
https://www.calvertjournal.com/features/show/12282/selma-selman-bosnian-roma-artist-performance-activism-painting

Einzelausstellungen in Kasseler Kunstverein Museum Fridericianum, Kassel (2021), Nationalgalerie, Sarajevo (2021), Acb Galerie, Budapest (2021), SU Art Gallery, Syracuse, USA (2018), agnès b. Galerie Boutique, New York, USA, (2017), Galerie Schleifmühlgasse 12-14, Wien (2016), Galerie Dreamland, Buffalo, New York (2016). Teilnahme an zahlreichen Gruppenausstellungen und Festivals wie beispielsweise EVROVIZION, ifa, Stuttgart, Mediterranea 19 Young Artists Biennale School of Waters, 58th Venice Biennale, Kunstquartier Bethanien in Berlin, Kunsthalle Wien in Wien, New Children Gallery in New Orleans, L'Onde Centre d‘art in Paris, Queens Museum in New York, The Creative Time Summit in Miami, Museum of Contemporary Art in Banja Luka, Villa Romana in Florenz, Maxim Gorki Theater in Berlin, Galerie Boutique in New York und viele andere mehr.