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Shanshui-Malerei ist nicht ein Fenster für das Auge des Betrachters, sondern ein Gegenstand für seine Seele. – Han Cho (Chinesischer Künstler, frühes 12. Jahrhundert)

Jede Landschaft ist ein Seelenzustand. – Henri Frédéric Amiel (Schweizer Philosoph, 1821–1881)

Shanshui – Kulturerbe der Menschheit

Wer der chinesischen Sprache nicht mächtig und mit deren Kultur nicht vertraut ist, mag dem Begriff Shanshui einen Wohlklang attestieren und wird darüber hinaus nicht erstaunt sein zu erfahren, dass er in vielschichtiger Weise Bedeutung mit sich trägt. Dem Menschen aus dem chinesischen Kulturkreis eröffnet (Shanshui) sogleich eine Vielzahl von Konnotationen und Assoziationen, begonnen bei der wörtlichen Bedeutung dieser Zeichen für „Berg“ ( shan) und „Wasser“ ( shui), den charakteristischen Merkmalen der natürlichen stoffli- chen Welt. Wasser und Berge waren wesentliche und unverzichtbare Be- standteile von Shanshui-Gemälden der vormodernen Zeit, in der Regel zusammen mit einer Andeutung von Dunst, um die stoffliche Welt als eine lebendige Struktur mit einer zirkulierenden Lebenskraft darzu- stellen. Shanshui bezeichnet also auch die Landschaftsmalerei und darüber hinaus die mit dieser einhergehende Lebens- und Geistes- haltung, die in China von Gelehrten, den sogenannten „Literati“ gepflegt wurde.

Der seit 1500 Jahren in China kultivierte künstlerische Ausdruck von Shanshui, die „Berg-Wasser-Malerei“, gehört zum Kulturerbe der Menschheit. Wenn nun ein schweizerisch-chinesisches Gemeinschaftsprojekt sich diesem Phänomen und insbesondere der Frage von dessen Weiterleben im zeitgenössischen Kontext annimmt, eröffnet sich ein hoch komplexes Untersuchungsfeld, das mehrere Interessen verfolgt.

Ein Brückenschlag zwischen Ost und West

Das primäre Anliegen der Ausstellung Shanshui und der begleitenden Publikation liegt im Brückenschlag zwischen den Weltkulturen. Die Bedeutung von Shanshui und die Art und Weise, wie es praktiziert wird – sowohl von den Künstlern wie von den Menschen, die diese Bilder betrachten -, wurzeln tief in der chinesischen Art zu denken und sich mit seiner Lebensumwelt in Verbindung zu bringen. Diese Landschaftsmalerei unterscheidet sich grundlegend von der westlichen Tradition derselben Gattung, so wie sich die chinesische Kunstge- schichte von der westlichen generell durch ganz unterschiedliche Konzepte, besonders was ihre Eigenständigkeit und ihre Entwicklung betrifft, abhebt. Diese Differenzen will das Projekt ins Bewusstsein bringen. Wurde in China die westliche Kunst im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zwar in unterschiedlicher Ausprägung, aber immer wieder rezipiert, so steht der westliche Betrachter wegen mangelndem Basis- wissen zumeist vor den Zeugnissen der chinesischen Kunstgeschichte, ohne deren Reichtum erfahren zu können. Dass die Shanshui-Malerei über die Art und Weise, wie sie die heutigen chinesischen Künstle- rinnen und Künstler adaptieren oder – wie man im Fachjargon sagt – „produktiv rezipieren“, vermittelt wird, mag dem Verständnis förder- lich sein, da sie unter einem (oft auch kritisch-distanzierten) zeitgenössischen Blickpunkt betrachtet werden kann.

Das Verhältnis zur eigenen Tradition

Die zeitgenössische Perspektive macht aber auch Gräben anderer Art sichtbar. So unterlag das Verhältnis gegenüber der eigenen Tradition in China in den letzten hundert Jahren einer wechsel- wenn nicht leidvollen Geschichte. Während mehr als tausend Jahren war die Land- schaftsmalerei das vorrangige Thema in der chinesischen Kunst. Diese Stellung wankte erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts, als aufgrund der Anforderungen der Propaganda die menschliche Figur ins Zentrum rückte. In der Umarmung der westlichen Kunstavantgarden durch die chinesischen Künstler der postmaoistischen Ära hat die Geschichte der Beziehung zur eigenen Kultur vielleicht ein letztes großes Kapi- tel erhalten. Sie wird heute von einer jüngeren Künstlergeneration in Form einer anscheinend unbelasteten, neugierigen Zuwendung zu den eigenen Wurzeln fortgeschrieben.

Gerade die Landschaft erfährt eine starke Wiederbelebung, denn die Künstler realisieren, dass sie ein unendlich formbares Motiv darstellt und sich zur Thematisierung sehr weit reichender Konzepte gebrauchen lässt. Darüber hinaus sorgt die Jahrhunderte lange Tradi- tion der Landschaftsmalerei für einen Reichtum sowohl an visueller wie technischer Inspiration und für einen philosophischen Unterbau, auf den nach Belieben zurückgegriffen werden kann.

Beförderung der Rezeption der chinesischen Gegenwartskunst

Die Ausstellung Shanshui bezweckt zudem, die internationale Rezep- tion der chinesischen Gegenwartskunst weiterzubringen. Bezeichnen- derweise erwächst dieses Projekt dem Umfeld des Schweizer China- Kenners Uli Sigg, demselben pionierhaften Sammler, der Harald Szeemann nach China gebracht und ihn dadurch veranlasst hat, 1999 in einem Überraschungscoup die chinesische Avantgarde an der Biennale von Venedig zu lancieren, und derselbe, der 2005 unter dem Titel Mahjong mit der Präsentation von Teilen seiner Sammlung im Kunst- museum Bern die internationale Kunstwelt vom Potential und Reichtum der aktuellen chinesischen Szene überzeugt hatte. Inzwischen ist die Zeit reif, die chinesische Gegenwartskunst mit qualifizierten Frage- stellungen auf den Prüfstand zu stellen. Die Befragung nach ihrem Verhältnis zur Tradition ist nicht nur eine genuin kunsthistorische, sondern im Falle Chinas auch eine von eminenter politischer und gesellschaftlicher Relevanz, geht es doch um nichts Geringeres als das Feld abzustecken, in dem die eigene Identität wurzelt. Insofern birgt das scheinbar beschauliche Thema der Landschaft einiges an Brisanz.

Die Sammlung Sigg

In den letzten 25 Jahren systematisch aufgebaut und erweitert, gilt die Sammlung Sigg bis heute als die umfassendste Sammlung chinesi- scher Gegenwartskunst weltweit. Sie hält auch qualitativ hohen Ansprüchen stand, sodass die 68 Exponate zu den 36 exemplarischen künstlerischen Positionen der Shanshui-Ausstellung ohne Mühe aus diesem Fundus geschöpft werden konnten.

Überraschende Subtilität in der Rückbesinnung auf Shanshui Neben den internationalen Stars wie Ai Weiwei, Huang Yan, Liu Wei, Qiu Shihua oder Zhou Tiehai überrascht eine junge Generation von Künstlern und – nun erstmals in größerer Zahl – Künstlerinnen mit innovativen Konzepten: Chen Ke, Hu Liu, Li Xi oder Ni Youyu, um nur einige zu nennen, zählen alle um die 30 Jahre und gehören sicherlich zu den Entdeckungen dieser Ausstellung.

Wer aufgrund der im Übermaß reproduzierten „Ikonen“ der zeitge- nössischen chinesischen Kunst eine vermeintlich typische chinesische Bildlichkeit, etwa in Form plakativer Verkürzung oder ironischer Paraphrasen hoher wie populärer Kunst erwartet, wird ob des zurück- haltenden Tons und der Subtilität der Anspielungen in den zeitgenös- sischen Landschaftsbildern erstaunt sein. Traditionelle Shanshui- Malerei bezweckt kein Abbild einer realen Landschaft. In der chine- sischen Kunsttheorie bildete sich ein Akzent bei der Landschaft als Ausdruck der Seele heraus, vorerst der Seele eines Ur-Raums, später derjenigen des Künstlers. Somit entwickelte sich die Shanshui- Malerei als ein Medium für die Befindlichkeit des Menschen und sein Verhältnis zur Lebensumgebung. Dieses Gefühl überträgt der Künstler mit seinem sorgsamen Pinselstrich auf das Papier, und es erschließt sich bei der kontemplativen Betrachtung des Bildes. Dies kann nur funktionieren, weil die Kunst des Shanshui präzisen Codes unter- liegt. Im Verlauf ihrer 1500-jährigen Geschichte hat sie kaum Entwicklungen durchgemacht, im Gegenteil, die steten Bezugnahmen auf die großen Vorbilder gehören zu den Regeln. Es gibt nur eine sehr reduzierte Farbpalette und die „Leerstellen“, etwa in Gestalt unbe- malt belassener Papierflächen zählen zu den geschätzten Qualitäten dieser Gattung. Wenn doch eine Entwicklung feststellbar ist, dann diejenige hin zum Ausdruck eines Individuums, dies dann aber ein bezeichnender, ganz großer Schritt für die chinesische Kunst.

Solche Feinheiten prägen auch die zeitgenössischen Erscheinungsformen der Landschaftsmalerei. Die heutigen Kunstschaffenden sind sich der historischen Bedeutung von Shanshui ebenso bewusst, wie der Problematik, dass dieser kulturelle Ausdruck im heutigen China nicht mehr zeitgemäss ist, es sei denn als Rückzugsort. So tauchen in ihren Werken Shanshui-Zitate oftmals dann auf, wenn es gilt eine heile Gegenwelt zur entfremdenden Realität zu evozieren. Andere versuchen, den Shanshui-Geist mittels neuer Medien in die Zukunft hinüber zu retten. Insbesondere die Fotografie nimmt ein breites Experimentierfeld ein, aber auch skulpturale Umsetzungen in modernen Materialien (Zhang Wang, Zhang Jian-Jun) oder die Verwen- dung ausgefallener Bildträger wie menschliche Körper (Huang Yan) oder Münzen (Ni Youyu) versuchen der Shanshui-Tradition neue Dimen- sionen zu verleihen. Dabei realisieren die Künstler, dass die Land- schaft ein unendlich formbares Motiv darstellt und sich Shanshui – nicht zuletzt aufgrund des reichen philosophischen Unterbaus – zur Thematisierung sehr weit reichender Konzepte gebrauchen lässt. Die Bandbreite der Bezugnahmen schließt am äußersten Rand des Spektrums Werke ein, die gerade in der Negation sämtlicher Aspekte und Werte von Shanshui die Entfremdung des Menschen von seiner Umgebung thema- tisieren, etwa wenn Ai Weiwei die Landzonen im Übergang zwischen der sich ausbreitenden Zivilisation und der Natur in einer Fotoserie zum Bildmotiv erhebt.

Dialogischer Diskurs dank Gespann Uli Sigg / Ai Weiwei

Von Anbeginn war klar, dass ein dialogischer, zeitweise gar kontro- verser Diskurs geführt werden sollte, sodass weder ein vom vermeint- lich Exotischen faszinierter westlicher Blick noch eine chinesische Selbstdarstellung die Perspektive dominierte. Für die Mitarbeit an der Konzeption, als Kokurator sowie als Autor konnte Uli Sigg den Konzeptkünstler, Architekten und Politaktivisten Ai Weiwei, Schlüs- selfigur und Mentor der chinesischen Kunstszene, gewinnen. Der von Peter Fischer herausgegebene Katalog sollte denn auch als Resonanz- raum einerseits für die Künstler und Kunstwerke, andererseits für den Diskurs dienen. Den interkulturellen Ansatz, der dem Projekt zu- grunde liegt, repräsentieren die Autorinnen und Autoren, die mal aus dem einen, mal aus dem anderen Kulturkreis stammen, und er kulmi- niert in einer Befragung des Begriffs Shanshui „aus uninformierter westlicher Sicht“, einem höchst aufschlussreichen Gespräch des Samm- lers Uli Sigg mit der chinesischen Kunsthistorikerin Hu Mingyuan.

Hochkarätig bestücktes historisches Kabinett

Für einen weiteren Brückenschlag konnte das Kunstmuseum Luzern in verdankenswerter Weise auf die Unterstützung durch zwei Museen mit bedeutenden ostasiatischen Sammlungen zählen. Das Museum Rietberg in Zürich und das Musée Guimet in Paris fanden Interesse an der Anwen- dung dieser grundsätzlich kunsthistorischen Fragestellung auf die Gegenwartskunst und stellen für die Ausstellung hochkarätige Leih- gaben zur Verfügung. Ein Kabinett mit einem Dutzend exemplarischer Shanshui-Bilder von der Song-Dynastie (960–1279) bis ins 20. Jahr- hundert verleiht der Ausstellung ein historisches Fundament und bietet den Ausstellungsbesucherinnen und -besuchern zudem die selte- ne Gelegenheit eines gerafften Überblicks über 1000 Jahre chine- sische Landschaftsmalerei.

Shanshui und Luzern

Das Kunstmuseum Luzern erweist sich als idealer Ort für diese Aus- stellung. Als „Heimmuseum“ des im Kanton Luzern wohnhaften Sammler- paars Uli und Rita Sigg hat es in den vergangenen Jahren immer wieder einzelne chinesische Künstler in seine Ausstellungen inte- griert. Zudem besetzen seine lichtdurchfluteten Räume die oberste Etage des Kultur- und Kongresszentrums KKL Luzern, erbaut im Jahre 2000 vom französischen Stararchitekten Jean Nouvel. In einzigartiger Weise hat Nouvel in diesem Bauwerk direkt am Gestade des Vierwald- stättersees den Blick auf die umgebende Landschaft architektonisch gefasst. Dass die Schweizer Landschaftsmalerei, vornehmlich des 19. Jahrhunderts, zu den Höhepunkten der Sammlung des Kunstmuseums Luzern gehört, überrascht nicht angesichts des Mentalitätsraums der Zentralschweiz mit Luzern als Hauptort. Die eindrückliche Land- schaftskulisse von See und Bergen vermag nicht nur Touristen aus aller Welt anzulocken, sondern nährt im Wesentlichen die Identität der Einheimischen; beste Voraussetzung also, um der Bedeutung des Shanshui-Geistes nachzuspüren und seine Relevanz in der heutigen Zeit zu befragen.

Künstler in der Ausstellung:

Ai Weiwei, Chen Guanghui, Chen Huang (17. Jh.), Chen Ke, Dai Guangyu, Dong Qichang (1555–1636), Duan Jianyu, Feng Mengbo, Gu Wenda, He Xiangyu, Hong Lei, Hu Liu, Huang Shen (1687–1772), Huang Yan, Ji Dachun, Jiang Zhi, Jin Jiangbo, Li Xi, Liu Wei d.Ä., Liu Wei d.J., Mi Wanzhong (1570–1628), Ni Youyu, Peng Wei, Qiu Shihua,, Qiu Anxiong, Shang Yang, Shao Wenhuan, Shen Zhou (15. Jh.), Shi Guorui, Wang Hui (1632–1717), Wang Yin, Wen Zhengming (1470 – 1559), Wu Gaozhong, Xu Bing, Xu Xiaoguo, Yan Lei, Yang Yongliang, Yao Song (1648–1721), Yuan Xiaofang, Zhang Jianjun, Zhang Wang, Zhang Xiatoao, Zhao Boju (1120–1162), Zhao Mengfu (1254–1322), Zheng Guogu, Zhou Tiehai.

Katalog zur Ausstellung: Peter Fischer (Hrsg.), Shanshui. Poesie ohne Worte? Landschaft in der chinesischen Gegenwartskunst. Werke aus der Sammlung Sigg, mit Texten von Ai Weiwei, Nataline Colonnello, Britta Erickson, Peter Fischer, Hu Mingyuan, Katja Lenz, Uli Sigg, Yin Jinan und Zhang Wei. Ostfildern: Hatje Cantz, 2011. Ca. 200 Seiten, deutsch und englisch, zahlreiche Farbabbildungen, ISBN 978-3-7757-2849-2.

Kuratoren: only in german

Ai Weiwei, Peter Fischer, Uli Sigg (Sammlung Sigg)