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Die Ausstellung „Kafka, der Visionär“ von Sofía Gandarias ist einem der bedeutendsten Schriftsteller der Weltliteratur gewidmet, einem Dichter, der nach Elias Canetti „unser Jahrhundert am reinsten ausgedrückt hat“. Gandarias nimmt sich Kafkas Werk an, aber ebenso sehr seiner visionären Sicht der Zeit zu Beginn des 20.Jahrhunderts, das spätestens mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 in eine Abfolge von gewalttätigen politischen Auseinandersetzungen globalen Charakters geriet, an deren Ende verbrannte Erde und Millionen Menschenopfer standen. Gandarias verknüpft Leben und Werk Kafkas eng mit dem Holocaust. Kafka, deutschsprachiger Schriftsteller aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Prag, hat ihn zwar nicht erlebt und erlitten, da er schon 1924 starb, aber in vielem hat er die Verbrechen an der Menschheit vorausgeahnt und engste Vertraute aus Familie und Freundeskreis sind Verfolgung, Vertreibung oder Ermordung durch die Nationalsozialisten zum Opfer gefallen.

„Kafka, der Visonär“ ist Gandarias’ erste Ausstellung in Deutschland und zugleich ihre erste Präsentation des Kafka-Themas, an dem sie mehr als drei Jahre gearbeitet hat. Diese Ausstellung knüpft an die Tradition des Kunstamts an, das einen Schwerpunkt seiner Aktivitäten auf Erinnerungsformen vor allem innerhalb der bildenden Kunst legt. Diese „Arbeit in Geschichte“, wie sie der Kunsthistoriker Georg Bussmann einmal nannte, ist Sofía Gandarias vertraut – ja ihr malerisches Werk ist als Ganzes davon gleichsam durchdrungen. „Kafka, der Visionär“, den sie hier sehen, ist nur eine von mehreren Bilderserien der spanischen Künstlerin, in der sie historisch einschneidende Ereignisse und Katastrophen der vergangenen hundert Jahre, in deren Schatten die Menschheit lebt, aufgreift.

Sofía Gandarias ist vor allem eine Malerin von Menschen. Ihr Leben in verschiedenen Ländern an der Seite ihres Mannes, des EU-Politikers Enrique Barón Crespo, ihre Reisen nach Lateinamerika, in die USA und in den Mittleren Osten sowie ihre Arbeit in Ateliers in Madrid, Brüssel und Venedig bringen sie mit bedeutenden Vertretern des Kulturlebens in Kontakt, darunter Carlos Fuentes, José Saramago, Simone Veil, Jorge Semprún und Yehudi Menuhin. Ihre frühen Bilderzyklen, „Presencias“ (Gegenwärtigkeiten) und „Retratos“ (Porträts), gelten lebenden wie verstorbenen Persönlichkeiten. In ihnen versucht die Künstlerin nicht nur die Physiognomie der Porträtierten, sondern auch ihre geistige Präsenz bildlich zu erfassen. Ihre Porträts sind zugleich eine Hommage an den oder die Dargestellte. Unter ihnen finden sich zum Beispiel Doris Lessing, Juan Rulfo, Augusto Roa Bastos, Rubén Darío, Gabriela Mistral, Gabriel García Márquez, Octavio Paz, Carlos Fuentes, Federico García Lorca, Hugo Claus und Luis Buñuel.

Gandarias’ erste intensive Auseinandersetzung mit Gewalt und Vertreibung setzt Anfang der neunziger Jahre ein, als sie angesichts der kriegerischen Ereignisse auf dem Balkan mehrere Gemälde Sarajevo widmet. In einem der Bilder baut sie Porträts von Susan Sonntag und Juan Goytisolo ein, die als engagierte Zeitzeugen über die Ereignisse berichteten. Damit gibt sie dem reflektierend-kritischen Gewissen der Zeit ein Gesicht. Im Jahre 2000 folgt die Serie „Primo Levi. Memoria“ (Primo Levi. Die Erinnerung). Darin geht Gandarias auf den italienischen Chemiker und Schriftsteller ein, der mit seinem Buch „Ist das ein Mensch?“ – so der Titel der deutschen Ausgabe von 1961 – eindrücklich über seine Haft in Auschwitz berichtet. Primo Levi ist für sie ein wichtiger Bezugspunkt: „Er war kein Historiker des Völkermords, sondern der Bewahrer der Erinnerung“. In den beiden folgenden Jahren gedenkt Gandarias in der Serie „New York 9\11“ in düsteren Bildmetaphern dem Terroranschlag auf das World Trade Center.

Die Sensibilität für solche Themen hat sicher einen persönlichen Ursprung in der Tatsache, dass Gandarias in Guernica geboren wurde. Die alte baskische Stadt ist gleichsam ein Symbol für den Spanischen Bürgerkrieg. Die verbrecherische Bombardierung Guernicas am 26. April 1937 durch die deutsche Legion Condor, die Francos Putschisten zu Hilfe eilte, war historisch gesehen der erste große und vernichtende Luftangriff auf ein ziviles Ziel. Guernica hat sich nicht zuletzt durch Picassos gleichnamiges Bild für die damalige Pariser Weltausstellung ins Gedächtnis der Menschheit eingeprägt. Auch Gandarias greift 2001 das Thema in einem großen Ölgemälde auf.

Die Malerin, die Ende der siebziger Jahre im neuen Spanien der Demokratie mit ihrem Werk beginnt und an die Öffentlichkeit tritt, hält sich von dominierenden, gar modischen künstlerischen Tendenzen fern. Gandarias Position innerhalb der in Spanien bis heute starken figurativen Traditionen steht im Wechselverhältnis mit ihrem Anliegen, Kunst als Teil des gesellschaftlichen Diskurses zu verstehen. Auch expressive und surreale Einflüsse sind in ihren Bildern spürbar. Neben den zahlreichen Schriftstellern unter den Porträtierten, die auf die Literatur als herausragende Inspirationsquelle für sie verweisen, bilden Maler die Ausnahme. Es sind: Oskar Kokoschka, Salvador Dalí, Francis Bacon, Antoni Clavé, das Künstlerpaar Frida Kahlo und Diego Rivera, sowie Paul Delvaux, der belgische Surrealist, den sie mit ihrem Selbstbildnis kombiniert. Was diese Maler verbindet, sind weniger ästhetische, denn geistige Verwandtschaften, eine grundsätzliche Haltung, Gewalt und Zerstörung durch Kunst entgegenzuarbeiten. Im Katalog zur Levi-Ausstellung schreibt Gandarias: „Das 20.Jahrhundert war grausam, alle waren es, allein dass heute die Grausamkeit medial auf uns zurückschlägt und wir sie schlucken. Weniger FANATISMUS, mehr ERZIEHUNG und immer die ERINNERUNG. (…) Wenn wir nicht vergessen, wird das 21. Jahrhundert besser.“

Diese eindringlichen Worte gelten auch für „Kafka, der Visionär“, mit dem Gandarias an das labyrinthische Werk von Kafka erinnert, das in der Inszenierung der Ausstellung durch den Theater- und Opernregisseur Gianfranco de Bosio aus Verona seine Entsprechung findet. Ebenso spiegelt es sich in Bildsymbolen sowie im Raum installierten Objekten wie Maulwurf, Spinngewebe, Mumie, Stuhl oder dem Gekrächze von Raben – eine Anspielung auf den Namen von Kafka – wieder, dazu kommen Verweise auf Leben und Werk anderer. Denn Kafkas’ Antlitz, seinem Kopf oder seiner Silhouette korrespondieren die Gesichter von Menschen, die Opfer des Holocaust, Verfolgte, Geächtete, Heimatlose oder ebenfalls Visionäre waren, Literaten und andere Denker, die sich, wie José Saramago, der selbst einbezogen ist, schreibt, „über den Brunnen der menschlichen Seele gebeugt haben und denen dabei schwindlig wurde“. Genannt seien stellvertretend Kafkas Übersetzerin und Briefpartnerin Milena Jesenská, gestorben im KZ Ravensbrück, Primo Levi, Hannah Arendt, Walter Benjamin, Jean Améry, Jorge Luis Borges, Paul Celan, Jorge Semprún, Marie Curie und Rita Levi Montalcini sowie aus jüngster Zeit Nelson Mandela mit seinem „Long walk to freedom“ und Papst Benedikt XVI, der noch als Kardinal Ratzinger im KZ Auschwitz die Frage stellte: „Wo war Gott?“ Diese Menschen sind für Gandarias – so Saramago – „Bewohner ihrer Erinnerung und ihrer Kultur“; sie ruft sie zusammen, damit sie „zu Zeichen, Marken, Narben, zu Licht und Schatten ihrer inneren Welt werden“. Unter ihnen Kafka, der Visionär. Und: Kafka im KZ. Das ist Gandarias’ Vision.

Vor dunklen, fahlen, leeren Hintergründen tauchen als Bild im Bild oder schwebend wie auf einer unsichtbaren Bühne nicht nur Körper und Gesichter auf, sondern Dinge, Gebäude und Tiere, die metaphorisch auf Personen, Werke und Geschehen bezogen sind: Schienen, Türme, Verbrennungsöfen der Vernichtungslager, Häftlingsnummern, Stacheldraht, mahnende, beschwörende, blutige Hände, Uhren, Brillen und magische Augen, aus Prag das Palais Kinski und das Versicherungsgebäude, in dem Kafka arbeitete, Masken mit verbundenen Augen, Ungeziefer, Spinnenweben und die schicksalhaften Raben. Und immer wieder, zum Teil als Collage, Briefauszüge, wie die von Kafka an Milena: „Briefe schreiben aber heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken.“ Oder ein anderer Brief, der Kafkas eigene Lage Anfang der zwanziger Jahre auf beklemmende Weise beschreibt: „Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß. (…) Das Heldentum, das darin besteht doch zu bleiben, ist jenes der Schaben, die auch nicht aus dem Badezimmer auszurotten sind“.

Spezifische Metaphern aus Kafkas Werk wie das Schloss des gleichnamigen Buches als Inbegriff der menschenverachtenden Bürokratie, der Stuhl als Werkzeug des Verhörs aus dem Buch „Der Prozess“, die nackte Brunelda, ein lockeres Mädchen, aus dem Roman „Amerika“ (oder „Der Verschollene“) und der Handlungsreisende Gregor Samsa, der in die „Die Verwandlung“ eines Tages als Insekt im Bett erwacht, tauchen in vielen Bildern auf, von denen sich die meisten im linken Ausstellungsraum befinden. In einer Reihe von Bildern stellt Gandarias auch den Hund Kalmus aus Kafkas „Forschungen eines Hundes“ dar, den sie als Melancholiker, Bankier, Richter, in Gedanken, hungrig und zuletzt auch scheißend zeigt. Der Hund ist hier, wie alle Tiere bei Kafka, Alter Ego des Menschen und Ausdruck von Verunsicherung, Unfreiheit, Entfremdung und Identitätskrise.

Zyklus und Ausstellung „Kafka, der Visionär“ sind Alptraum und Hoffnungsversprechen zugleich. Denn Sofía Gandarias’ Werk ist ein ästhetischer Gewissensappell, nicht realistisch, dokumentarisch oder erzählerisch, sondern personalisiert und auf symbolischer Ebene. Es ist eine eindringliche, bildhafte Mahnung, die sich gegen das Vergessen von Gewalt und Totalitarismus wendet und zugleich die Erinnerung an die Menschen wach hält, die mit Bild, Wort, Ton und Tat gegen das Unrecht ankämpfen und deren Blicke aus ihren Bildern uns treffen. Damit auch sie immer wieder gelesen und gehört werden.

Michael Nungesser

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Sofía Gandarias
Kafka, der Visionär
Kurator: Katharina Kaiser