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Seit seiner Eröffnung hat das Kunstmuseum Wolfsburg eine Vielzahl von Ausstellungen realisiert, die das Wachsen seiner Sammlung regelmäßig vorstellten. Je umfangreicher die Sammlung wurde, desto leichter wurde es auch, aus den Beständen heraus die Präsentationen thematisch auszurichten. In diesem Jahr wird die thematische Herangehensweise um künstlerische Positionen erweitert, die sich noch nicht in der Sammlung befinden und die diese temporär ergänzen sollen.

Die Ausstellung des Kunstmuseum Wolfsburg widmet sich in der Ausstellung "Spurensuche: Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst" der Frage nach der Bedeutung von Erinnerung im Zeitalter digitaler Datenspeicher und beschleunigter Medienkommunikationsprozesse. Ausgehend von der im Jahr 1999 erworbenen Arbeit "Menschlich" von Christian Boltanski (geb. 1944) wurden Werke der Sammlung des Museums ausgewählt, die thematisch zu diesem Hauptwerk passen. Erinnerungsarbeit oder Spurensuche sind dabei nicht an formale Aussagemöglichkeiten gebunden. Die Ausstellung vereint Künstler aus Bereichen der Malerei, der Fotografie, der Videokunst und der Installation. Aus der Sammlung sind Christian Boltanski, Douglas Gordon, Paul Graham, Jörg Immendorff, Anselm Kiefer und Luc Tuymans vertreten. In Ergänzung hierzu zeigen wir mit Sophie Calle und Annette Messager "Gastkünstler", die bislang nicht in der Sammlung vertreten sind, die vorhandenen Werke der Sammlung jedoch in der Präsentation dynamisieren und um neue Assoziationsmöglichkeiten bereichern.

In der Rauminstallation Menschlich hat Christian Boltanski Fotografien, die für frühere Arbeiten entstanden sind, zu einer imaginären Familie zusammengeführt: Menschen verschiedenen Alters, Geschlechts, verschiedener Herkunft, Religion, sozialen Status, Nation, Täter und Opfer, etwa 1300 Einzelschicksale, die in dem riesigen Raum mehr oder weniger darauf zu warten scheinen, wahrgenommen zu werden. Die Installation lebt von dem Verlangen, jeden einzelnen dieser Menschen zu „erkennen“, etwas über sie und ihre Schicksale erfahren zu wollen. Was man dort findet, sind Einblicke in die Präsenz und Absenz von Leben. Die Arbeit funktioniert wie ein Album, welches auf geschichtliche Ereignisse ebenso verweist, wie auf die individuellen Lebensläufe. "Menschlich" wird so zu einer Art Memorialraum.

Der belgische Maler Luc Tuymans arbeitet gerne in Serien. Komplexe Fragestellungen sind es, die ihn hierbei leiten. Eine davon kreist um das Thema des Holocaust. Diesem hat Tuymans in seiner hintergründigen Art die Serie Der Architekt gewidmet, die er erstmals 1998 in Berlin ausstellte. Der Titel eines der Gemälde aus der Sammlung Muur Witte (Weiße Mauer) ist nüchtern und knapp und bezieht sich auf eine weiße Wand, auf der ein Bild befestigt ist, das offenbar die Spur eines Skiläufers im Schnee zeigt. Hier initiiert Tuymans eine Reihe von Assoziationen, die der Betrachter des Bildes knüpfen kann: So hat z.B. der Topos von Spuren im Schnee insofern eine lange Tradition, als mit ihm die Flüchtigkeit eines vergangenen Ereignisses, auf das nur noch über die Negativform geschlossen werden kann, mit der sprichwörtlichen Vergänglichkeit des Schnees gekoppelt ist. Wenige Jahre nach der Serie Der Architekt ist das Bild Hair entstanden. Auch hier haben wir es offenbar mit einem Nachbild zu tun, einer vertrauten Erfahrung: Man versucht, sich an eine Person zu erinnern, der man vor längerer Zeit begegnet ist; aber das einzige, was die Erinnerung festhalten konnte, ist ein schemenhaftes Detail wie hier das Haar der Betreffenden.

In Recherches (1997/98) bezieht sich Tuymans auf eine Erinnerung an eine Vitrine mit Objekten aus Menschenhaar, die er in Auschwitz gesehen hatte. Von der französischen Künstlerin Annette Messager (geb. 1943) zeigen wir eine Leihgabe der Hamburger Kunsthalle mit dem Titel Les Restes aus dem Jahr 1998. Wie häufig in ihren installativen Arbeiten verwendet Messager Plüschtiere, die Trophäen gleich in einer bestimmten Konstellation an der Wand angebracht sind. Die Tiere stehen hierbei Traum-, Wunsch- und Erinnerungswelten, für archäologische Überreste aus der Kindheit und sind vielschichtige Metaphern für emotionale Abgründe. Der Titel verweist bereits auf die zeichenhafte Fragmentierung von Erinnerung.

Auch Sophie Calle (geb. 1953) gehört zu den bekanntesten französischen Künstlerinnen der Gegenwart. Sie bedient sich oftmals eines detektivischen Ansatzes in ihren Arbeiten. Sie beschattet, sie recherchiert, sie fotografiert und kommentiert. Sie lässt andere zu Wort kommen, die normalerweise nicht befragt werden. So auch für die Arbeit Die Entfernung aus dem Jahr 1996, deren Entstehung sie folgerndermaßen beschreibt: „Ich suchte Orte auf, von denen Symbole der DDR-Geschichte entfernt worden sind. Ich bat Passanten und Anwohner, die Gegenstände zu beschreiben, die einst diese leeren Stellen füllten. Ich fotografierte die Abwesenheit und ersetzte die fehlenden Monumente durch die Erinnerungen an sie.“ Die Werkgruppe Calles befasst sich mit der jüngsten deutschen Geschichte und mit der historischen Bereinigung des Stadtbildes in Berlin, wie sie sich in den Jahren nach der Wiedervereinigung ereignet hat.

Vom britischen Künstler Paul Graham zeigen wir vier Aufnahmen aus der Serie Empty Heaven, die sich mit der japanischen Kapitulation nach dem Abwurf zweier Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki befassen. Geschichte und das Verdrängen schmerzhafter Erinnerungen werden in bildlichen Metaphern bearbeitet und in Form chiffrierter Botschaften dem Betrachter vermittelt.

Von Douglas Gordon zeigen wir die Arbeit Feature Film aus dem Jahr 1999, die sich seit 2000 in der Sammlung des Kunstmuseum Wolfsburg befindet. Für diese Videoarbeit bat Douglas Gordon James Conlon, den Chef d'orchestre der Pariser Oper, die Musik des Filmklassikers Vertigo von Alfred Hitchcock zu dirigieren. Auf Szenen des Films verzichtet Gordon vollständig und konzentriert sich dagegen auf Nahaufnahmen der dramatischen Gesten des Kopfes und der Händes des Dirigenten. Die suggestive Kraft der Musik evoziert bei dem Betrachter Bilder und er assoziert Bilder, die zur Stimmung der Musik passen oder die ihn gar an konkrete Filmszenen erinnern.

Jörg Immendorffs Gemälde Kleine Reise (Hasensülze) ist ein Jahr nach dem Fall der Mauer 1990 entstanden und versucht sich in einer Art Bestandsaufnahme des damaligen Kunstgeschehens. Der Maler greift auf die Ikonographie früherer Bilder zurück und thematisiert die historischen Umwälzungen, die deutsche Vergangenheit sowie wesentlichen Entwicklungen in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dem Immendorffschen Gemälde gegenüber steht Anselm Kiefers raumgreifende Installation 20 Jahre Einsamkeit aus den Jahren 1971 bis 1991. Kiefer konstituierte diese Arbeit so wie er es schon zuvor praktiziert hatte: Er kombiniert großformatige, teilweise aufgerollte Gemälde mit Erdschollen, vertrockneten Gräsern und Sonnenblumen, Bleirollen, Schlangenhaut und nutzt ihre metaphorische Aussagekraft. So erweisen sich die aufgetürmten Bilder aus zwanzig Schaffensjahren als ein Monument gescheiterter Hoffnungen.

Pressetext

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Spurensuche.
Vergessen und Erinnern der Gegenwartskunst

mit Christian Boltanski, Sophie Calle, Douglas Gordon, Paul Graham,
Jörg Immendorff, Anselm Kiefer, Annette Messager, Luc Tuymans