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Am 27. März 2004 endete das Leben eines passionierten Photographen und eines außergewöhnlichen Menschen, wie selten seinesgleichen zu finden war: Dirk Reinartz wurde nur 56 Jahre alt, und seine Zeit als Professor für Photographie an der Kieler Muthesius-Kunsthochschule währte nur sechs Jahre. Nur kurze Zeit zuvor, im Januar 2004, stellte Dirk Reinartz seine „Inneren Angelegenheiten“ im Kunstverein Glückstadt aus. Die Präsentation seiner kleinformatigen Farbaufnahmen im oberen Stock des Renaissancepalais’ gefiel ihm damals außerordentlich gut. Gleichzeitig befand er sich in Gesprächen mit der Kunststiftung HSH Nordbank über ein größeres Ausstellungsprojekt mit Arbeiten von ihm und seinen Studenten. Nach seinem plötzlichen Tod geriet die von Reinartz bereits grob konzipierte Photographieausstellung kurz in Vergessenheit, bis wir von der Kunststiftung gebeten wurden, dieses Ausstellungsprojekt in seinem Sinne weiterzuführen, was nun, auch mit Hilfe seiner Frau Karin Reinartz geschehen ist. Drei Jahre nach Reinartz’ Konzeption soll hier nicht nur den Diplomarbeiten, sondern auch aktuellen Projekten seiner ehemaligen Studenten ein Forum gegeben werden. Doch am Beginn stehen Reinartz’ teilweise unpublizierte New York-Photographien aus den Siebzigerjahren, als dieser so alt war wie seine Studenten, als sie für ihr Examen bei ihm arbeiteten. Die Bildgegenüberstellung von Lehrer- und Schülerarbeiten wäre sicherlich weitaus geringer ausgefallen, wenn Reinartz – bescheiden wie er war - selbst als Kurator fungiert hätte. Den beiden berufenen Kuratoren jedoch erscheint, vor dem Hintergrund der geänderten Ausgangslage, gerade diese photographische Spurensuche wichtig und reizvoll.

Dirk Reinartz selbst ging durch eine intensive Ausbildungszeit bei Otto Steinert an der Essener Folkwang-Schule. Später stellte er seinen Schülern ähnliche Aufgaben in der eigenen Klasse an der Muthesiusschule, beispielsweise „Das Tier“.

Reinartz’ Student MARKUS STEFFEN hat sich für seine Diplomarbeit über Wettbewerbe auch unter Tierzüchtern und Hundefriseuren getummelt und überrascht mit kuriosen wie nachdenklichen Bildern. Auch SVEN-ERIC SINDT wählte einen ungewöhnlichen Weg, um dieses Thema zu bearbeiten: er sammelte überfahrene Tiere ein und ließ sie beim Tierarzt röntgen.

Verschiedene Aspekte von Stille lassen sich in den Arbeiten der Schüler erkennen, z.B. bei CHRISTOPH EDELHOFFS Serie „Elektrorecycling“. Die Halde mit Computerschrott verweist auf die Schnelllebigkeit von technischen Gebrauchsgegenständen, ohne die heute niemand mehr auskommt. THIES RÄTZKES Diplomarbeit „Kontrollbereich“ ist dagegen im innersten Sicherheitsbereich des Kernkraftwerkes Brokdorf entstanden. Das Muster der elektronischen Anzeigentafeln und die in Schutzanzügen vermummten Angestellten vermitteln die Idee verlangsamter Bewegungen und verstummter Geräusche.

Nicht alle Reinartz-Schüler sind in die gängigen Kategorien des Mediums einzuordnen. Die Bilder von MARTIN LEBIODA sind weder der Reportage, noch der konzeptionellen Dokumentarfotografie zuzuordnen. Auf seinen Reisen nach Indien und Afghanistan bediente er sich bewusst der Methode des „Derive“ (Umherschweifens), und dabei bezieht er sich auf die Situationisten der Fünfzigerjahre. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert war es beliebt, mit leicht verschobenem Kamerawinkel vom erhöhten Standpunkt Rundumsichten von bedeutenden Städten anfertigen. BIRGIT RAUTENBERG nimmt diese gestalterische Idee mit ihren Landschaftspanoramen auf, die unter anderem in ihrer Schleswig-Holsteinischen Heimat entstanden sind. Sie untersucht mit diesen Bildserien die Veränderungen der natürlichen Oberflächenstruktur. Landschaftsbilder ganz anderer Art begegnen uns bei HOLGER STÖHRMANN in seiner Serie „Anonym“. Meist sind es unbelebte Nachtaufnahmen, dunkle Orte, etwa Autobahnraststätten, Parkplätze oder Kinos, wo sich Menschen, zum spontanen, doch geplanten Geschlechtsverkehr treffen. Da sie sich vorher nie begegnet sind, erkennen sie einander nur über bestimmte, vorher festgelegte Codes. Die norddeutschen Strandlandschaften von SONJA BRÜGGEMANN sowie ihre Nahansichten von Teppichen und Tapeten bilden ein subtiles Gegensatzpaar aus Distanz und Nähe, aus landschaftlicher Weite und bürgerlicher Enge. Für ihre Werkgruppe „Wie eh und je“ richtete sie ihre Kamera auf ihr persönliches Umfeld, das Elternhaus, wo sie Kindheitserinnerungen in der Gegenwart photographierte.

Momente des Übergangs sind Thema von SUSANNE LUDWIG: Sie photographiert Orte wie Fabrik- und Lagerhallen oder Büros von Firmen, die kurz zuvor Insolvenz anmelden mussten. Angefangen hat alles mit dem Nordischen Stahlwerk in Neumünster, wo die Photographin im Chaos der räumlichen Entleerung und ökonomischen Abwicklung nach den Geschichten des Vergangenen suchte. Auch die Architektur des dritten Reiches steht in Deutschland trotz systematischer Zerstörungen während des zweiten Weltkrieges noch heute an vielen Orten herum und wird in unterschiedlichster Art und Weise genutzt, als Dokumentationszentrum und Museum, als Diskothek und Versandhauslager oder zerfällt als unliebsame Geschichtsruine. RALF MEYER spürte nach aufwändiger Recherche zahlreiche solcher Gebäude auf und schreibt mit dieser subtil angelegten, photographischen Studie ein Stück deutscher Architekturgeschichte.

HEIKE MARIE KRAUSE ging nach dem Diplom bei Reinartz mit einem DAAD-Stipendium nach New York, wo ihre Portraitserie „Selves“ entstand: unterschiedliche, formatfüllende Mimikstudien des eigenen Gesichts. Was zunächst wie ein Filmstreifen wirkt, bleibt lückenhaft und offen für unsere Imaginationen. „Es ist wie es ist“ lautete der Ausspruch einer sehr jungen, offenbar überforderten Mutter von drei Kindern, von denen eines fremd untergebracht ist, und wurde auch von RANDI DUBORG als Titel ihrer Diplomarbeit gewählt. Darin untersucht sie Familienstrukturen jenseits der sozialen Netze unserer Gesellschaft.

Obwohl es Dirk Reinartz nur kurz vergönnt war, an der Muthesius-Kunsthochschule Fotografie zu lehren, hat er seinen Studenten entscheidende Impulse zur Professionalisierung geben können. Viele dieser eigenständigen photographischen Positionen sind in Norddeutschland entstanden, also gewissermaßen vor der eigenen Haustür – ähnlich wie auch Reinartz selbst arbeitete. Diese stillen Bilder scheinen die Zeit anzuhalten und zugleich offene Gesellschaftsräume zu beschreiben.

Der Titel „Stille“ charakterisiert die langsame wie überlegte fotografische Annäherung von Dirk Reinartz und seinen Schülern an die unmittelbare Umgebung sowie an die leisen Themen, die ihre innere Spannung oft erst auf dem zweiten Blick offenbaren.

Christiane Gehner / Matthias Harder

Zur Ausstellung erscheint eine umfangreiche Publikation im Steidl Verlag, herausgegeben von Christiane Gehner und Matthias Harder, mit Texten von Hubertus von Amelunxen, Ulf Erdmann Ziegler und den Herausgebern.

Weitere Ausstellungstermine: Kunsthalle zu Kiel (4.Mai – 6.Juni 2007); VHS Fotogalerie Stuttgart (27. Juni – 3. August 2007); Martin Gropius Bau, Berlin (August – September 2007); Städtische Galerie Wolfsburg (September – Dezember 2007) und Stadtmuseum Buxtehude (Frühjahr 2008)

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Stille - Dirk Reinartz und Schüler
Kuratoren: Christiane Gehner, Mathias Harder