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Thu Van Tran. Novel Without a Title

11.9.2020  — 15.11.2020

«Disappearance leaves traces, it is the passage that is intense.» (Thu Van Tran)

Geboren 1979 in Ho-Chi-Minh-Stadt, floh Thu Van Tran 1981 zusammen mit ihrer Familie nach Frankreich – ihre heutige Wahlheimat. 2018 wurde sie für den renommierten Prix Marcel Duchamp von Frankreich nominiert. Ihr Studium absolvierte Tran an der Glasgow School of Art und der École nationale supérieure des beaux-arts in Paris.

Seit vielen Jahren bildet die Künstlerin ein Werk heraus, das sowohl Fotografien, Zeichnungen und Videos als auch Skulpturen und Installationen umfasst, die am jeweiligen Ausstellungsort zu einer grossen Narration zusammengefügt werden. Eine Narration, die Fragen stellt hinsichtlich unserer Fähigkeit, uns an die Geschichte, Rituale und Vermächtnisse von Ländern oder auch Nationen zu erinnern. In ihren Arbeiten befasst sich die Künstlerin mit dem postkolonialen Verhältnis Vietnams zu Frankreich und den USA. Sie interessiert, wie das Gestern in das Heute ragt, wie das historische und das kollektive Bewusstsein zusammenspielen.

Immer wieder wird Thu Van Trans Praxis inspiriert von Literatur, Geschichte, Architektur und Natur. Dabei richtet sie ihr Augenmerk auf die Art und Weise, wie die Kulturwissenschaft Konzepte der Kontamination, Identität und Sprache in den verschiedenen Disziplinen untersucht. Für die Ausstellung im Kunsthaus Baselland – die erste Einzelausstellung der Künstlerin und zugleich die erste Präsentation ihres Werks in der Schweiz – spielt die Sprache respektive die Sprachlosigkeit eine zentrale Rolle. Mit dem gewählten Ausstellungstitel Novel Without a Title bezieht sie sich explizit auf die vietnamesische Schriftstellerin Duong Thu Huong und ihren Roman Novel Without a Name. Zentral für diese Referenz ist die Frage nach unserem Vermögen oder auch Unvermögen, Geschichten und Tragödien zu erzählen und zu überliefern. Können wir über das Unaussprechliche sprechen?

Ein wichtiger Schlüssel für die grosse Werkauslage im Kunsthaus Baselland ist Thu Van Trans 2-Kanal-Videoinstallation 24 Stunden in Hanoi von 2019. Thu Van Tran führt eine Protagonistin durch die Stadt Hanoi und legt damit ihre eigenen Erfahrungen von ihrem letzten Besuch dieser Stadt offen, die für sie vertraut und fremd zugleich ist. Zentral bei dem Rundgang ist der Besuch des Tempels der Literatur, ein kulturelles und spirituelles Zentrum, das Konfuzius gewidmet ist und das u.a. 82 Steinschildkröten mit Inschriftentafeln beherbergt. Die Tafeln beinhalten Texte in Alt-Vietnamesisch, einer Sprache, die seit der Einführung des westlichen Alphabets durch französische und portugiesische Jesuiten heute nahezu vergessen ist. Wie schnell kann die Sprache eines Landes, einer Kultur, eines Individuums oder eines Kollektivs vergehen?

Auch in ihrer Photogramm-Serie Maids Day, mit deren Titel die Künstlerin uns bewusst zwischen Maids Day und dem internationalen Notrufsignal Mayday gedanklich hin- und herschickt, gelingt Thu Van Tran eine zarte Form der Erinnerung. Angeleitet durch ein Erlebnis, das die Künstlerin selbst bei einem ihrer letzten Besuche in Hong Kong machte, bezieht sie sich auf eine Zusammenkunft von vornehmlich philippinischen Reinigungskräften, die meist nachts in Grossraumbüros wirken. Jeden Sonntag versammeln sich diese Frauen zu einer Art stummen Protest, sitzen auf Kartons im öffentlichen Raum und formieren sich zu einer hoch präsenten Menge – sichtbar für jeden. Thu Van Tran holt mit dieser Serie im wahrsten Sinne diejenigen ans Licht, die täglich im Schatten arbeiten und gibt diesen still kämpfenden Frauen eine permanente Präsenz. Mit dieser Serie, die an Spuren von Gewesenem erinnert und für die Tran zugleich Kartonstücke aus Hong Kong sammelte, fragt die Künstlerin nach Möglichkeiten, die Fragilität und Schönheit, aber auch die Kraft und Widerständigkeit dieser Frauen zu reproduzieren und damit festzuhalten.

Poesie, Schönheit und auch Sinnlichkeit in den Werken anzustreben trotz dem oder gerade vor dem Hintergrund, was inhaltlich reflektiert und erzählt wird, ist denn auch das rote Band, das sich durch das gesamte Werk von Thu Van Tran und ihre Ausstellung in Basel zieht.

Mit den neuen grossformatigen Graphitzeichnungen Trail Dust bezieht sich die Künstlerin auf eines der traurigsten Kapitel in der Geschichte Vietnams: Trail Dust war der Name einer Operation des amerikanischen Militärs im Vietnamkrieg, in der dieses das Gift Agent Orange grossflächig einsetzte und über weite Landflächen Vietnams versprühte. Ein Staub, der sich absetzt, kontaminiert, Leben vernichtet. Auch die grossen bronzenen Kautschukbaumblätter mögen daran erinnern, wieviele Tropenwälder durch eben jene militärische Aktion verseucht wurden und den Menschen ihre Nahrung und ihre Gesundheit genommen hat. Bewusst verwendet die Künstlerin für den skulpturalen Herstellungsprozess ein Wachsschmelzverfahren, das die grünen Blätter zerstört, um im nächsten Schritt eine Bronzeskulptur hervorzubringen, die Dauer und Bestand hat. Anhand der Blätter, Sinnbild der üppigen vietnamesischen Kautschukbaum- oder auch Bananenplantagen, wird die Geschichte für viele Jahre und Jahrzehnte gespeichert. Es ist nicht zuletzt die Geschichte eines Landes, dessen Rohstoffe lange, gewaltsame und ausbeuterische Gewinnungsprozesse durchlaufen haben.

Thu Van klagt weder an noch lässt sie den Zuschauer melancholisch werden. Eher ist es eine poetische, feine Spurensuche aus Sprache, Materialien und Themen, die man als BesucherIn zusammen mit der Künstlerin beim Gang durch die Räume unternimmt. Eine Spurensuche nach Vergessenem, Verlorenem, Vergangenem, die die zentralen Momente in der Kultur und der Geschichte eines Landes und deren BewohnerInnen für uns nicht nur verständlich, sondern erlebbar und erfahrbar macht.

Kuratorin: Ines Goldbach