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TOBIAS SPICHTIG. LONG STORIES
17.04.2018 - 26.05.2018
OPENING TUESDAY, 17.04.2018 18:00 - 20:00

Die alte Dame überquerte die Straße unbeirrt, als das Auto auf sie zuraste. Es erwischte sie sauber und ihr Schädel zerplatzte auf der Windschutzscheibe wie eine Wassermelone, so dass man die Starrköpfigkeit alter Menschen wieder einmal mit Weisheit verwechseln könnte.

Ein ander mal saß Aline auf der Rückbank neben meiner Schwester. Beide haben geschlafen und die Schlaglöcher auf der Autobahn waren so tief, dass ihre Köpfe immer mal wieder an die Decke geschlagen sind. An den Straßenrändern gab es viele Schilder mit Wildwechsel und sehr präzisen Kilometerangaben, wie zum Beispiel 7,1 oder 5,2. Aber die sah ich alle nicht, denn der Nebel war viel zu dicht auf dem Rückweg. Wahrscheinlich lag es aber auch gar nicht unbedingt am Nebel, sondern am Vorabend, wir hatten den ganzen Tag in verschiedenen Parks verbracht, um auszunüchtern, und Nina, die wir verloren hatten, hatte sich eine Sonnenbrille gekauft und den Tag weinend in einer Kirche verbracht. Das Auto hatten wir am Abend zuvor in einer Garage untergestellt, damit es nicht geklaut würde, aber hatten es dann im Laufe des Abends benutzt und an einem Ort stehen lassen, an den wir uns nicht mehr erinnern konnten. Auf der Suche nach dem verloren gegangenen Auto liefen wir zwischen brutalistischen Bauten umher und stellten uns in unserem Delirium vor, dass kleine Kinder unter den Vorsprüngen dieser Architektur glücklich spielten.

Wir schwammen alle rüber zur Insel über den braunen See, der sich durch ein natürliches Metall verfärbt hatte und wo wir uns endlich entspannen konnten. Einer saß auf dem Stein mit dem Rücken zu mir. Sein Lächeln versteinerte. Seine Zähne wurden zu einer wunderschönen Kette von Kieseln und seine Augen zu Porzellankugeln. Sie waren nach innen gedreht, als er sich schließlich umdrehte. Ich war mir sicher, dass seine Knochen eine super Klaviertastatur hergeben würden und ich hatte auf einmal eine unbändige Lust zu spielen.

Als die Brandung gegen den Felsen schlug, wusste ich, ich liebe Aline. Aber das wusste ich auch schon lange vorher. Am Nachmittag sind wir in diesem Wasser schwimmen gegangen. Die Sonne war weiß und die Blumen blau, die die Treppe zum Meer herunter rankten, und hier war es, wo Aline herkam. Sie brauchte kein Oberteil, weil sie die Dinge so tat, wie sie sie immer tat, was mich mit Sehnsucht erfüllte, aber sie brauchte auch deswegen kein Oberteil, weil keine von den etlichen Typen bei uns waren, von denen ich nicht einen kannte, der nicht ab und zu über Alines Brüste sprach. Sie waren nicht da und Aline hatte höchstens einen blassen Schimmer davon, dass mich ihre Brüste genauso verrückt machten wie die, und sie legte ihre Unwissenheit, von der es noch sehr viel zwischen uns gab, in die andere Richtung aus. Später würden wir wieder roten Sirup trinken und ich wusste schon wie es sein würde, die Eiswürfel würden ein Geräusch im Glas machen, das niemals das gleiche wäre ohne den Sirup.

In den Bergen schaut man sich ganz anders an, denn da sieht man ja viel mehr, weil die Erde in die andere Richtung gebogen ist. Die Wege sind begrenzt in den Bergen und meistens ziemlich eindeutig. Sie eröffnen neue Welten innerhalb von Minuten und die verschiedenen Abzweigungen bestimmen, in welche dieser Welten man sich begibt. Und wenn man dabei gesehen wird, eine Abzweigung zu nehmen, werden normalerweise keine Suggestionen angestellt von dem, der es gesehen hat, denn es gibt bereits so viel Wissen über jeden. Aber wenn jemand eine für ihn untypische Abzweigung nimmt, werden dafür umso mehr Suggestionen angestellt, die später auch ausgetauscht werden. Da läuft man hinein in den dunklen Wald mit kleinen tiefblauen Blumen.

Theresa Patzschke, 2018