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„Le Vele di Scampia“ ist eine futuristische Wohnsiedlung im Norden von Neapel und ein Schauplatz des Camorra-Krieges. Ende der 1970er Jahre von Francesco di Salvo entworfen und ihrer städtebaulichen Struktur wegen weithin beachtet, wurden „Le Vele” („Die Segel”) schon vor ihrer Fertigstellung von Familien aus dem Mafia-Umfeld besetzt. Heute ist der Gebäudekomplex einer der größten Drogenumschlagplätze Europas und ein Symbol für die Macht der Camorra in der Region Neapel. 2008 drehte Matteo Garrone hier seinen Kinofilm „Gomorra“ nach dem Roman von Roberto Saviano.

Tobias Zielonys Fotoanimation „Le Vele di Scampia“ entstand 2009 am gleichen Ort. 7.000 Einzelbilder, mit einer digitalen Spiegelreflexkamera bei Nacht aufgenommen, sind zu einem neunminütigen Animationsfilm montiert. Die Bildabfolge ist von der Realzeit entkoppelt. Szenen verlaufen schneller oder langsamer als die Wirklichkeit. Eine nervöse Rhythmik entsteht, die ebenso wie Schnitt und teils auch Motivik des Films an frühe Stummfilme erinnert. So wird der geheimnisvolle, bühnenhafte Charakter des architektonischen Sets noch verstärkt, auf dem die Personen, denen Zielony mit der Kamera begegnet, ihre sozialen Rollen selbst in Szene setzen.

Der Film, wie auch die parallel enstandene fotografische Serie, zeigt indes keine harten Jungs, keinen Mafia-Krimi, kaum den Anfang einer Neapelgeschichte. Wie schon in vorangegangenen Projekten tritt statt dessen eine substanzielle Unsicherheit im Rollenspiel der meist jugendlichen Akteure hervor, die an den Randzonen gesellschaftlicher Akzeptanz leben: Ihre Hoffnung, Anerkennung als das Individuum zu finden, das sie zu sein glauben, trifft auf die Sorge, das Bild vom eigenen Selbst nicht überzeugend genug zu verkörpern. Ihre Kleidung, ihre Gestik, ihre Acessoires passen auf Identitätsvorlagen, die sie dem globalen Warenstrom der Mode-, Film- und Musikindustrie entnehmen, während sie selber in den Resten scheiternder städtebaulicher Utopien darauf warten, dass zwischen Langeweile, Gelegenheitsarbeiten und Kriminalisierung das Leben endlich beginnt, für das sie posieren.

Es gibt nicht nur eine Globalisierung der Märkte und der Seinsweisen, die sie anzubieten haben. Es gibt auch eine Globalisierung des wachsenden Unmuts, das eigene Leben diesen Märkten zu unterwerfen - gepaart mit der Furcht, dass dann vielleicht nicht viel bliebe vom eigenen Selbst. Peter Richter schrieb in der FAZ von einer „Internationale der Globalisierungsverlierer“, die Zielony seit 2000 an so unterschiedlichen Orten wie Halle-Neustadt, Los Angeles, Bristol, Winnipeg oder Marseille fotografiert, als sei es eine einzige große... Familie? Zielonys erste Galerie-Einzelausstellung in Deutschland fügt dieser Reihe zwei weitere Orte hinzu: Neben Neapel Zielona Gora, eine polnische Stadt mittlerer Größe unweit der Deutsch-Polnischen Grenze. Auch hier das Abwarten in urbanen und sozialen Zwischenräumen und - wie meist bei Zielonys Fotografie - in einem abendlichen Mischlicht, das die Menschen in einem transitorischen Zustand zwischen Tag und Nacht festhält.