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12.11.2022 - 16.04.2023

Tobias Zielony – Dark Data

Die Einzelausstellung „Dark Data“ versammelt vier Werkgruppen von Tobias Zielony (*1973 in Wuppertal, lebt in Berlin). Im Zentrum der Ausstellung stehen Fragen von Dunkelheit, Sichtbarkeit und Bildproduktion. Es geht um Phänomene oder Netzwerke, die wir vielleicht erst auf den zweiten Blick in den einnehmenden Portraits und Filmarbeiten wahrnehmen. Inhaltlich stehen gesellschaftliche Prozesse und politischen Kontexte, die Vielschichtigkeit von Identität in der Gesellschaft sowie globaler Handel und Bedingungen von Arbeit im Fokus. Für die gemeinsam mit dem polnischen Kurator Daniel Muzyczuk (Museum Sztuki Lodz) entwickelte Ausstellung spielt die hochaktuelle politische Situation in der Ukraine und im Osten Europas eine wichtige Rolle, die in einem vielschichtigen Rahmenprogramm thematisiert wird.

Tobias Zielony arbeitet als Fotograf und Filmemacher. Er ist bekannt geworden durch seine feinfühligen Portraits von Menschen, die er mit viel Nähe, auch im Gespräch und in ihrem jeweiligen Umfeld begleitet. Diese Kontexte und Spuren fließen in seine multimedialen Installationen ein und entspannen so ein breites Netz gesellschafts-politisch Korrelationen. Folgerichtig sind zudem auch Publikationen zu den einzelnen thematischen Werkgruppen, die Recherchen und Interviews aufnehmen, elementarer Teil seiner künstlerischen Praxis. Ebenso wichtig sind für ihn aber auch ganz grundsätzliche Fragestellungen der Bildproduktion als solche und dazu, wie Bild und Welt in Beziehung zueinanderstehen.

In der langen Galerie des Lippold Baus werden insgesamt 24 großformatige Fotografien aus aktuellem Anlass gezeigt: für die Werkgruppe „Maskirovka“ (2017) portraitierte Zielony die LGBTQIA+- und Techno-Szene der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Der Charakter der Fotografien liegt dabei im Spannungsfeld zwischen beobachtender, naher Begleitung und der privaten Bühnen für Inszenierungen der Gezeigten. Teil der Serie ist zudem eine Videoarbeit, in der die Aufnahmen mit schnell flackernden Nachrichtenbildern aus dem Fernsehen zusammenkommen, welche die kontrastierende Realität des politischen Alltags aufrufen.

Die Serie entstand in einer Zeit des politischen Schwebezustands im Land: Nach den Protesten rund um den Maidan, der russischen Annexion der Krim und dem Krieg im Donbas, und damit noch lange vor Beginn des russischen Angriffskriegs im Frühjahr 2022. Die damals weniger offenkundig durchschaubare Situation gibt auch der Titel wieder. „Maskirovka“ steht für eine Taktik der verdeckten Kriegsführung, die das russische Militär anwandte, bei der anhand der Uniformierung keine Partei erkennbar gemacht wird. Maskierungen spielen umgekehrt auch für die Portraitierten eine Rolle, zum einen in ihrer Selbstdarstellung im sozialgesellschaftlichen Bezugsfeld, zum anderen aber auch im konkret politisch-aktivistischen, etwa als Verhüllung bei Protesten.

Die räumlich installierte Videoarbeit „Hurd’s Bank“ (2020) bewegt sich auf den Spuren der Ermordung einer Journalistin in Malta. Sie ermittelte wegen Korruption und Schmuggels, Systemen, die dort ebenso undurchsichtig wie offenkundig ablaufen und Teil des politischen und wirtschaftlichen Systems sind. Parallel zu einer Erzählung auf den Spuren dieser Vorkommnisse sind Bilder zu sehen, die ausschließlich durch ein Teleskop aufgenommen wurden. Meer und Schiffe erscheinen angesichts der Distanz von 12 Meilen überraschend scharf, aber dennoch entsteht durch den Teleskopzoom das Gefühl von Orientierungslosigkeit. Die „Hurd’s Bank“ ist ein Offshore-Bereich im internationalen Gewässer vor der maltesischen Küste, der einen wichtigen Handelsplatz darstellt, auf dem Schiffe oft tagelang warten und nicht selten geht es um brisante Ladungen oder Handelswege. Formal unterstreicht dieses die Differenz zwischen Bild und Ton, ebenso wie der Zoom, der nur vermeintlich Klärung bietet, zwischen dem Sichtbaren und dem, was in der Unschärfe oder im Verborgenen liegt.

Eine intensive Recherche ist auch Hintergrund der Multimedia-Installation „Wolfen“ (2022). Sie vereint Fotoprints, fotografisches Arbeitsmaterial und eine Doppel-Videoprojektion. Im Zentrum steht die ORWO-Filmfabrik (entstanden 1909 als Agfa-Filmfabrik) in Wolfen (heute Bitterfeld-Wolfen), die in Zeiten der DDR eine Monopolstellung im Bereich des Filmmaterials innehatte. Die eine Projektion zeigt Bilder des Ortes sowie von ehemaligen Mitarbeiterinnen in nachgestellte Szenen aus dem Arbeitsalltag und auf der anderen Seite sind Textstücke aus Interviews, Recherchen und Beobachtungen des Künstlers zu lesen. In den Texten geht es um die Arbeitsbedingungen: die Arbeit in ständiger Dunkelheit und unter widrigen Umständen, die größtenteils von Frauen oder auch von Zwangsarbeiterinnen ausgeführt wurde. Es geht aber auch um die größeren wirtschaftlichen Kontexte, die weit über die Grenzen der Sowjetunion hinausreichten und in globale Rohstoffkreisläufe eingebunden waren. All dies ist Teil einer nicht erzählten Geschichte, die Zielony in einem fiktionalen Archiv aufarbeitet. Bezeichnenderweise befindet sich heute als letztes Überbleibsel von ORWO in Wolfen die Firma, Filmotec, die spezialisierten, auf lange Haltbarkeit ausgelegten Archivfilm herstellt. Die Mehrdeutigkeit der Dunkelheit als Bedingung für fotografisches Schaffen, auf physischer, metaphorischer und politischer Ebene ist in dieser Arbeit eindrücklich aufgefächert. Zu dieser Werkserie gibt das Museum Marta Herford Ende 2022 im Verlag Spector Books eine neue Publikation heraus.

Die neuste Videoarbeit „Watching TV in Narva” (2022) wird in der Ausstellung erstmalig zu sehen sein. Die estnische Stadt Narva liegt unmittelbar an der Grenze zu Russland. 95% der Bevölkerung spricht russisch, viele haben eine uneindeutige Staatsangehörigkeit. Das Grenzgebiet bildet im Nachgang der Sowjetunion einen politischen Zwischenraum. Unmittelbar nach Anfang des Kriegs in der Ukraine schaltete Estland die Übertragung wichtiger russischer Nachrichtensender ab. Die Videoarbeit zeigt einzelne, meist jüngere Protagonist*innen, die im flackernden Licht eines Fernsehers sitzen und durch Kanäle zappen, in denen unterschiedlichste Programme und Sprachen ablaufen, und sich währenddessen teilweise mit dem Künstler unterhalten. Im Wechsel zu den im Widerschein der Monitore sitzenden Menschen zeigt Zielony Sequenzen der Fernsehprogramme und Nachrichtenkanälen. Währenddessen sprechen sie über das, was sie dort sehen, über Erlebnisse, Ereignisse und tauschen Gedanken aus. Es geht ganz aktuell um die Zusammenhänge zwischen Fernsehen, Propaganda, Sprache und Identität vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine.

Letztendlich kreisen alle vier Werkserien um Fragen der Sichtbarkeit, des Verdunkelns, Verschleierns, des ans Lichtbringens, was nicht umsonst lange als Metapher für Aufklärung galt (Enlightment). Zielonys Arbeiten thematisieren den Bruch zwischen Bild und Information. Sie lassen uns nachdenken, wie Bildinformationen auch in Kontextualisierungen entstehen und loten ebenso feine Grate zwischen Fakt und Fiktion und hiermit entstehenden Möglichkeitsräumen aus.

Biografisches
1973 in Wuppertal geboren, studierte Zielony Fotografie an der University of Wales, Newport, UK und an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Seit 2022 ist Zielony Professor für Fotografie an der Hochschule für bildende Künste, Hamburg, wo seine jüngsten Arbeiten soeben im Museum für Kunst und Gewerbe ausgestellt waren. Zielony war Teil zahlreicher Ausstellungen weltweit, er war unter anderem Künstler des Deutschen Pavillon der Venedig Biennale 2015. 2021 zeigte das Museum Folkwang, Essen seine erste umfassende Retrospektive, daneben hatte er Einzelausstellungen, etwa im Von der Heydt-Museum Wuppertal (2017), in der Berlinischen Galerie (2013), im Museum MAXXI, Rom (2012), im Philadelphia Museum of Art (2011) oder im Centre de la Photographie, Genf (2006). Zielony erhielt verschiedene Stipendien und Preise.