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SECOND NATURE, der Titel der Ausstellung, reflektiert eine kulturphilosophische Grundüberlegung, die besagt, dass Kultur die zweite Natur des Menschen darstellt. Diese zweite Natur schaffen wir nicht nur, indem wir Natur als Landschaft, unsere Biosphäre verändern, sondern auch an und in uns selbst, indem wir unsere anthropologischen Dispositionen überformen und kultivieren. Viele Versuche der modernen Naturwissenschaften (seien es die Anstrengungen, Gene und Zellen zu manipulieren, jene, Anti-Materie oder Schwarze Löcher herzustellen, oder die, künstliche Intelligenz zu produzieren) sind auf die Entwicklung einer neuen, verbesserten Natur ausgerichtet. Nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den Methoden und Erkenntnissen neuzeitlicher Forschung justiert Tony Cragg die Parameter der modernen Plastik seit dreißig Jahren neu.

1949 in Liverpool geboren, arbeitete Tony Cragg 1966 bis 1968 zunächst als Labortechniker in der Chemie-Industrie und ging 1969 an das Gloucestershire College of Art, Cheltenham, danach für drei Jahre an die Wimbledon School of Art und von 1973 bis 1977 an das Royal College of Art nach London. 1976 wurde er Professor an der École des Beaux-Arts in Metz, 1978 erhielt er einen Lehrauftrag an der Kunstakademie Düsseldorf, wo er von 1988 bis heute eine Professur bekleidet. Von 2001 bis 2006 lehrte er zwischenzeitlich an der Universität der Künste Berlin. Cragg war mehrmals mit Werken bei der Biennale in Venedig vertreten und repräsentierte Großbritannien dort 1988 im britischen Pavillon. In den Jahren 1972 und 1987 nahm er an der documenta in Kassel teil. 1988 erhielt er den Turner-Prize, 2001 den Shakespeare-Prize und 2007 den Praemium Imperiale des japanischen Kaiserhauses, der als Nobelpreis der Künste gilt. Tony Cragg lebt und arbeitet seit 1977 in Wuppertal, wo er 2008 einen Skulpturenpark eröffnete.

Sein plastisches Œuvre, das anfänglich Impulse aus der Auseinandersetzung mit der britischen Land Art und körperbetonten Arbeitsmethoden aufnahm, zeichnet sich durch einen immensen Reichtum an überraschenden Formerfindungen aus, die sich auch in den Zeichnungen widerspiegeln. Metamorphosen von Wahrnehmungen der Gegenstandswelt, der Landschaft und der Figur gehen amalgamiert in Craggs Werke ein.

In den 1980er-Jahren wurde der Künstler für seine Installationen aus Plastik-Fragmenten welt-berühmt, die er mosaikartig zu farbigen Reliefs und Bodenarbeiten arrangierte und mit denen er ästhetisch provokativ Ikonen und Klischees der Gegenwart befragte. Stapelung, Schichtung und Häufung – Strategien, die er auch in Zeichnungen durch federnde Formwiederholungen nachempfindet – waren damals und sind bis heute werkkonstitutive Verfahren, mit denen sich Cragg verschiedenster vorgefundener Altmaterialien und Gebrauchsgegenstände bemächtigte und sie überraschend umdeutete. Neben der monumentalen Vergrößerung von Alltagsgegenständen erarbeitete er Ende der 1980er-Jahre seine abstrakten Early Forms, die sich als autonome Formgebilde aus einer Haut entwickeln, die sich dramatisch einstülpt und ausbuchtet, zu rasanten Kurven aufschwingt, sich dynamisch dreht und Gefäßhaftes in sich aufnimmt, mehrdeutig an Körperhöhlungen und -innenräume, an Frühformen der Entwicklung des Organischen erinnert, aber auch technoide Züge aufweisen kann. Plastiken von frappanter Geschmeidigkeit entstehen in dieser Werkgruppe bis heute.

Wirbelsäulenstrukturen waren in den neunziger Jahren produktive Ausgangskonstellationen für die Entwicklung weiterer Werkreihen. Diese Articulated Columns, die Early Forms und die mit den Wirbelsäulen verwandten Rational Beings, die schlauch- und hüllenhafte Gestalt anneh-men, weisen eine jeweils eigene Art von „Körpersprache“ auf. In jüngster Zeit erwachsen derar-tige Stelen deutlich aus Reihungen und Deformationen von Gesichtern und Köpfen, die sich vielfach verzerrt und wie in rotierender Bewegung im Raum entfalten. In der Horizontalen verei-nigen sich Köpfe, Gesichter mit geschlossenen Augen und aus ihnen hervorgehende plastische Brückenformen zu Mental Landscapes, Kopf- und Denk-Landschaften, die sich visionär und traumverloren auffächern, scheinbar sukzessive in Phasen festgehaltene Bewegungen in die Skulptur überführen.

Cragg selbst bezeichnet sich gerne als „Materialisten“, der die Möglichkeiten seiner immer wie-der neuen und auch in dieser Ausstellung breit repräsentierten Werkstoffe erforscht und zu erweitern sucht. Tatsächlich setzt er sich in seinen Werken aus Holz, Kunststoff, Bronze, Gips, Fiberglas, Aluminium, Glas und Stein mit dem Verhalten von Materie, aber auch mit Raum und Zeit auseinander, mit Bewegung und Statik, mit Mikrostrukturen und Makrozusammenhängen, mit dem, was Lebendigkeit ausmacht.

Dabei kommt dem Begriff der Energie besondere Bedeutung zu – auch für die Zeichnungen Craggs. Zeichnung und Skulptur stehen sich in seinem Schaffen weitgehend autonom gegenüber – dennoch entspinnen sich starke und befruchtende Dialoge zwischen beiden Sektoren. Die Zeichnung mit ihren vibrierenden Gesten lässt auch jene Dimensionen erahnen, die die Plastik verschweigt, die Cragg nur in diesem Medium sichtbar machen kann: Welle und Teilchen, Partikel und Strahlung, Schwingung, Strömung und das Geschehen im Raum zwischen den Körpern, der erfüllt ist von unsichtbaren Kräften.

Die Ausstellung wird von einem 253 Seiten umfassenden Katalog begleitet, der im Dumont-Verlag erscheint und Texte von Christa Lichtenstern, Kirsten Claudia Voigt und Jon Wood enthält. Das Museum der Moderne in Salzburg übernimmt die Ausstellung vom 27. Juni bis 4. Oktober 2009.

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Tony Cragg
Second Nature