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Anlässlich seines zehnjährigen Bestehens präsentiert das Kunstmuseum Wolfsburg eine Auswahl von Einzelwerken und Werkgruppen aus seiner umfassenden Sammlung zeitgenössischer Kunst sowie Neuerwerbungen der letzten Jahre unter dem Titel "Treasure Island" (Schatzinsel) und verweist so auf seine erfolgreiche, wenn auch noch recht kurze Geschichte.

Noch vor Eröffnung des Museums wurde 1992 die Bipolarität von Sammlung und Ausstellung als zentraler Aspekt der Museumskonzeption festgeschrieben. Neben der Organisation einer Vielzahl von Ausstellungen stellte das Kunstmuseum das Wachsen seiner Sammlung regelmäßig in der Ausstellungsreihe Tuning up #1-5 vor und setzte die Reihe der Sammlungsausstellungen seit 1999 mit der Reihe der Updates fort, die allerdings auch schon explizit thematisch ausgerichtet wurden.

Das Profil der Sammlung zielt dabei nicht auf Vollständigkeit, sondern auf das Hervorheben markanter künstlerischer Positionen. Der zeitliche Beginn der Sammlung wird durch Minimal Art, Concept Art und Arte Povera markiert. Bis in die jüngste Gegenwartskunst hinein erfolgte eine Konzentration auf Werkgruppen, die im Gegensatz zu Einzelwerken einen ausführlicheren Einblick in die von den jeweiligen Künstlern vertretenen Haltungen geben. "Treasure Island" widmet sich in einem eher historischen Teil Vertretern der Arte Povera und der Konzeptkunst, gibt einige Beispiele für die Evolution im Bereich der Videokunst, widmet sich dann einer mittleren Künstlergeneration mit Künstlern wie Cindy Sherman und Gary Hill. Überdies werden Künstler der Young British Artists und einige junge Künstler vorgestellt, die in den letzten Jahren international Beachtung erlangt haben.

Von dem kürzlich verstorbenen Heroen der Arte Povera, Mario Merz, werden zwei seiner charakteristischen Iglus, das Objet Cache-toi und das Igloo Fibonacci 1970 gezeigt, die den Beginn der Auseinandersetzung des Künstlers mit der archaischen Form des Iglu markieren. Auch der 1938 geborene Jannis Kounellis ist der Strömung der Arte Povera zuzurechnen. In "Treasure Island" ist seine Spirale (1977) aus heißgewalztem Stahlblech mit aufwärts strebender Lokomotive als Kommentar zur nostalgisch anmutenden Industriegeschichte zu sehen.

Der Niederländer Jan Dibbets (geb. 1941 in Weert) zählt zu den Hauptvertretern der europäischen Konzeptkunst. Im Mittelpunkt seiner künstlerischen Strategie steht das Problem der Wahrnehmung, der Sinnestäuschung und Illusion, wobei ihm die Fotographie als Untersuchungsgegenstand dient. Das Kunstmuseum zeigt mehrere Werkgruppen aus den Jahren 1971 bis 1982.

Der Altmeister Bruce Nauman ist mit der skulpturalen Arbeit Ten Heads Circle / In and Out (1990) und dem Frankfurt Portfolio (1990) sowie acht seiner Videoarbeiten und Falls, Pratfalls and Sleights of Hand (Clean Version), 1993, vertreten. Die körperbezogenen Aktionen des Künstlers gingen gegen Ende der sechziger Jahre über in Objekte und Installationen, von denen eine spürbare Bedrohung gegenüber dem Betrachter ausgeht. Nauman beabsichtigt, den mit bedrohlichen Situationen konfrontierten Betrachter an neue Grenzen zu führen und so eine Steigerung seines Bewusstseins zu ermöglichen, die nicht durch bloßes Nachdenken über sich selbst zu erlangen wäre. Ten Heads Circle / In and Out und das Frankfurt Portfolio verweisen beide gleichermaßen auf Fragen der Menschenwürde, der Gewalt und der Medialisierung. Auch The Major’s Port (1972), Human Bondage No. 7 (1974) und Fuck (1977) von Gilbert & George (geb.1943 u. 1942) stehen für unterschiedliche Schaffensphasen der beiden Künstler und thematisieren menschliche Exzesse, Sexualität und Begehren und sind letztendlich dem Kapitel der Konzeptkunst zuzuordnen, die in den sechziger Jahren ihren Anfang nahm. The Major’s Port gehört zu den sogenannten Drinking Sculptures, Aktionen, in deren Verlauf sich die Künstler bis zur Besinnungslosigkeit betranken. Der Titel verweist auf einen von den Künstlern gerne getrunkenen Portwein, und der Ort der Handlung ist die Ball’s Bar im Londoner East End, unweit der Wohnung der Künstler. Auch Human Bondage No. 7 gehört zum Kontext der Drinking Sculptures. Die Fotografien sind hier nicht mehr in lockerer Folge angeordnet, sondern in Form eines linksgeflügelten Hakenkreuzes, und die Künstler präsentieren sich selbst nicht mehr in dandyhafter Attitüde, sondern am Boden liegend, besinnungslos vom Alkohol. Fuck entstammt der Serie der Dirty Words, die gesellschaftlich sanktionierte, obszöne Begriffe zeigen und auf die städtische Subkultur Bezug nehmen.

Ausgangspunkt des Œuvres von Stanley Brouwn (geb. 1935) ist das Messen von zurückgelegten Entfernungen. Eines der ersten Projekte dieser Art war eine Reise von Holland nach Nordafrika, während der Stanley Brouwn eine präzise Messung jener Schritte vornahm, die er in jedem Land zurücklegte, das er auf dieser Reise durchquerte. In "Treasure Island" sind Arbeiten aus den Jahren 1973 bis 1997 zu sehen sowie ein Video der Fernsehgalerie Gerry Schum, in welcher eine Aktion des Künstlers dokumentiert ist.

Durch einen Ankauf des Freundeskreises des Kunstmuseum Wolfsburg gelangte im Jahr 2001 Christian Boltanskis (geb. 1944) Arbeit Théâtre d‘ombre aus dem Jahr 1984 in die Sammlung des Museums. Die Installation zählt typologisch zur Werkgruppe der Ombres, der Schattenbilder.

Jeff Walls (geb. 1946) inszenierte Schwarzweißfotografie Passerby (1996) stellt eine nächtliche Begegnung dar: Zwei Männer begegnen sich auf einer sonst unbelebten Straße, wovon sich der eine schemenhaft in den schwarzen Bildhintergrund entfernt und der andere sich umschaut. Der Kontext dieser nächtlichen Begegnung bleibt unklar, jedoch scheint auch hier, impliziert durch das grell erleuchtete Stopschild, Unheil zu drohen. Auch in den anderen großformatigen Leuchtkastenbildern herrscht eine rätselhafte, wenn nicht gar unheimliche Atmosphäre. Widmet sich Wall in Untangling (1994) der Metapher des "Entwirrens", die als Sinnbild für den – oft vergeblichen – Versuch einer Problemlösung zu gelten hat, so ist es in A Hunting Scene (1994) eine gleichermaßen verwirrende wie beunruhigende Jagdszene, die es dem Betrachter überlässt zu entscheiden, wer oder was hier gejagt wird.

"Treasure Island" zeigt ebenso hervorragende Beispiele der Videokunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Von Nam June Paik, dem Klassiker der Videokunst, wird die Arbeit Egg Grows No. 4 (1984) zu sehen sein, in welcher sich der Künstler ironisch dem Thema der Evolution und des Wachstums annähert. Ein Ei wird von einer Kamera gefilmt und auf acht in ihrer Größe zunehmende Monitore übertragen. So wird der Eindruck eines wachsenden Eis, welches sich schließlich zu teilen scheint, erzeugt.

Das Kunstmuseum Wolfsburg hat seine Werkgruppe zu Bruce Nauman mit einer Reihe von Videoarbeiten aus den Jahren 1968 bis 1969 erweitern können, so dass auch dieses eminent wichtige Betätigungsfeld des Künstlers zur Geschichte der Videokunst in Beziehung gesetzt werden kann.

Gary Hill, der mit seiner Arbeit Searchlight (1986-1996) schon seit 1997 in der Sammlung des Kunstmuseums vertreten ist, gehört bereits zur zweiten Generation der Videokünstler. Seine künstlerische Laufbahn hat der in Seattle lebende Amerikaner als Bildhauer begonnen. Die eher meditative Arbeit Searchlight wurde kürzlich durch die geradezu martialische und körperlich anstrengende Arbeit Reflex Chamber (1996) ergänzt, bei welcher das projizierte Bild stakkatoartig durch Stroboskopblitze überstrahlt wird.

Von Douglas Gordon wird die Videoinstallation 24 Hours Psycho (1993) zu sehen sein, in welcher der Künstler ausgehend von Hitchcocks Filmklassiker aufzeigt, wie fragil die Illusion der Echtzeit im Film wirklich ist.

Malerei im Hochglanzlack und rhythmisch pulsierende Filme über die Vorgänge in den Metropolen sind das große Thema der amerikanischen Künstlerin Sarah Morris. Das Kunstmuseum zeigt ihre Filmarbeit AM/PM (1999), die sich der "Magic City" Las Vegas widmet, sowie eines ihrer Lackrasterbilder und eine Edition von 9 Siebdrucken.

Auf der Empore im 2. Obergeschoss ist die Arbeit Interiors (2002) des amerikanischen Künstlers Doug Aitken installiert und damit eines der jüngsten Beispiele für künstlerische Arbeiten mit dem Medium Video. In einer kreuzförmigen Raumarchitektur aus einer transparenten Bespannung und drei transluzenten Leinwänden ergeben sich beim Umschreiten stets neue Bildkombinationen. Interiors schildert die scheinbar unvereinbaren Geschichten verschiedener Personen, die sich in lichtdurchfluteten Innenräumen und urbanen Landschaften bewegen. In immer neuen Erzählungen spürt Aitken hier der Einsamkeit des Großstadtmenschen nach und thematisiert schier archaische Fragen der menschlichen Existenz.

"Treasure Island" zeigt Cindy Sherman (geb. 1954) in einer Reihe von Aufnahmen aus der sogenannten Serie der Untitled Film Stills, die zu einer der frühesten Werkgruppen der Künstlerin gehören. In den inszenierten Schwarzweißfotografien (1977-1980) sieht der Betrachter die Künstlerin selbst in unterschiedlichen Frauenrollen. Alle Film Stills gemahnen an Filme eher zurückliegender Epochen, wie etwa der 50er und 60 Jahre mit einem spezifisch rückwärtsgewandten Frauenbild: Die ordentliche Hausfrau, der lüsterne Vamp, das schüchterne Mädchen. Über ihre Verkleidungen thematisiert Sherman Fragen der Identität und der Geschlechterrollen.

Luc Tuymans (geb. 1958) nimmt die Erfahrung flüchtiger Bilder aus Fotografie, Film und Fernsehen in seine Malerei auf, um sie in der nachhaltigen Präsenz eines statischen, auf der Leinwand materialisierten Bildes zu brechen. Das eindringlichste Werk der Wolfsburger Präsentation zeigt einen Mann in Uniform ohne Kopfbedeckung, der vor einer Wand mit verschränkten Armen posiert. Das Gesicht des Mannes ist nicht zu erkennen. In Verbindung mit dem Titel des Bildes, Himmler (1997/98), erhält die anonyme grau-braune Gestalt, von der eine bedrohliche Wirkung ausgeht, ihre Identität.

Andreas Gursky (geb. 1955), in den letzten Jahren zu einem der Stars der internationalen Kunstszene avanciert, gelangte mit seinen Werken schon sehr früh in die Sammlung des Kunstmuseums, das 1998 eine Einzelausstellung dem Werk des Künstlers gewidmet hat. Er ist in "Treasure Island" unter anderem mit Bundestag (1998) vertreten, einer Arbeit, die aufgrund der Unbestimmbarkeit des dargestellten Raumes, seiner Schichten und Spiegelungen den Betrachter herausfordert. Gurskys große Formate offenbaren auf den ersten Blick leicht erschließbare, perspektivische Bildräume, die sich dann bei näherer Betrachtung zu einem unendlichen, mikroskopischen Kosmos zu entdeckender Details entpuppen.

Mit A Hundred Years (1990), einer der radikalsten Arbeiten von Damien Hirst (geb. 1965), verweist die Sammlung des Kunstmuseum Wolfsburg auf das Wiedererstarken der britischen Kunst und einen seiner Hauptakteure. Der Glaskörper und seine Aufteilung erinnert an einen Versuchsaufbau, in welchem Fliegen unterschiedlichen Lebensbedingungen ausgesetzt sind und in den zwei Hälften des Gehäuses Nahrung, Schutz oder den Tod finden.

Im Kontext der spektakulären Auftritten der Young British Art ist auch Douglas Gordon mit seiner Videoarbeit 24 Hour Psycho zu sehen.

Auch die aktuellen Entwicklungen in der deutschen, aber auch explizit internationalen Kunstszene finden ihre Spuren in der Sammlung des Kunstmuseums:

Der 1960 in Leipzig geborene Neo Rauch schöpft aus dem Bilderschatz früherer Zeiten. Anklänge an den Realismus in seiner sozialistischen Variante - sowohl aus der „hohen“ Kunst wie auch aus der werblichen Grafik – sind unübersehbar. Den Betrachter erinnern die freundlichen, roboterhaft agierenden Figuren jedoch gleichermaßen an Vorbilder aus der amerikanischen Werbebranche der 50er und 60er Jahre. Rauch nutzt das Repertoire der unbewussten und damit latenten Zeichensprache ganz ohne Attitüde, um neue rätselhafte Szenerien zu konstruieren.

Mit Michel Majerus zusammen gehört Franz Ackermann zu den exponiertesten Vertretern der zeitgenössischen Malerei. In großformatigen, teilweise raumgreifenden Gemälden operiert er suggestiv mit der Wahrnehmung der Außenwelt, ihren assoziationsgeladenen Strukturen, Farben, Formen, Illusionen und Klischees. Das zentrale Erfahrungsmoment in Ackermanns Werk ist das Reisen.

Elizabeth Peyton, deren Werke im Kunstmuseum 1998 in einer Einzelausstellung zu sehen waren, ist mit einer Werkgruppe vertreten. Die junge amerikanische Malerin entdeckt am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wieder traditionelle künstlerische Ausdrucksweisen und füllt diese mit persönlichen, zeitgemäßen Inhalten. Ausgehend von in Magazinen ausgeschnittenen, aber auch selbst gemachten Fotografien entstehen ihre zarten Ölbilder. Ausgehend von einer Zeitungsmeldung, dass die Scheidungsquote in Wolfsburg nach einer Reduzierung der Arbeitszeit durch ein neues Schichtmodell bei Volkswagen in die Höhe geschnellt sei, begann Christian Jankowski vor Ort eine Recherche. Paare, die sich getrennt hatten, sollten in einer Spielsituation zunächst nach Drehbuch und dann völlig improvisiert, streiten. Pikantes Setting für den partnerschaftlichen Disput in Create Problems (1999) war die artifizielle Ausstattung eines Pornostudios.

Der Künstler Eberhard Havekost befasst sich in seinen Bildern mit der menschlichen Wahrnehmung von Alltag, von Nebensächlichkeiten, mit dem flüchtigen, oberflächlichen und auch unbewussten Sehen. Nur schwer ist die Frage zu beantworten, was eigentlich gesehen oder gar wahrgenommen wurde. Havekost fertigt seine Gemälde auf der Grundlage fotografischer Vorlagen an, die er in Schnappschüssen gleich selbst anfertigt und am Computer bearbeitet.

Torben Giehler (geb. 1973), der jüngste Künstler in der Sammlung, ist mit einem großformatigen Acrylgemälde vertreten. Er lotet die neuen bildnerischen Möglichkeiten zwischen Malerei und digitaler Codierung aus, indem er Freihandzeichnungen von Landschaften oder urbanen Zentren anfertigt, die er anschließend einscannt und mit Hilfe von Bildbearbeitungsprogrammen am Computer umgestaltet.

Die Ausstellung zeigt annähernd 100 Werke von insgesamt 30 Künstlern oder Künstlerpaaren aus einer Zeitspanne zwischen 1968 bis 2003. Zur Ausstellung im Jahr 1999 erschien der vom Kustos der Sammlung, Holger Broeker, bearbeitete Katalog Gesammelte Werke 1. Zeitgenössische Kunst seit 1968. Erwerbungen 1993 bis 1999 im Hatje Cantz Verlag. Pressetext