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»Triebkräfte der Erde« – Unter diesem die deutsche Romantik aufrufenden Titel fasste Fritz Winter (1905-1976) eine Serie von etwa 55 Arbeiten auf Papier zusammen, die er zu Beginn des Jahres 1944 während eines Fronturlaubs schuf. In Gouache, Öl und Aquarell, Schablonen- und Aufspritztechnik machte er auf diesen je ca. 30 x 20 cm großen Blättern vegetabile Strukturen anschaulich, stilisierte und abstrahierte Wachstumsvorgänge, die sich im Halbdunkel unterirdischer Räume zu vollziehen scheinen.

Die »Triebkräfte der Erde« Fritz Winters werden in der Ausstellung der Pinakothek der Moderne mit Werken von Paul Klee, Franz Marc, Joseph Beuys und Per Kirkeby konfrontiert, mit graphischen Arbeiten, die sich ebenfalls dem Thema Pflanze, Wachstum und Metamorphose widmen.

Schon früh wurden die »Triebkräfte der Erde« als Paradigma der inneren Emigration in Deutschland interpretiert und damit als traditionserhaltendes Bindeglied zwischen dem »Geistigen in der Kunst«, vertreten durch Wassily Kandinsky, Franz Marc, Paul Klee, und der deutschen Nachkriegsabstraktion verstanden, zu deren Protagonisten Fritz Winter selbst gehörte. Werner Haftmann, der Theoretiker der abstrakten Malerei in Deutschland, der 1957 die »Triebkräfte der Erde« als erster veröffentlichte, bezeichnete die Bildreihe als »ein wichtiges Dokument der deutschen zeitgenössischen Geschichte. … Sie zeigt, wie da ein Einzelner inmitten der Verfolgung, des Krieges und der völligen Aussichtslosigkeit seiner Lage beharrlich und unbeirrt an seinem Auftrag und seiner Weise des Ausdrucks ( - die unter Strafe stand - ) festhielt und Gedanken bewahrte und zur Reife brachte, die aus der Mitte der deutschen Ausdruckswelt kamen.«

Nicht nur formal, sondern auch in diesem Sinn ist die Affinität der »Triebkräfte« zu den letzten Werken Franz Marcs, insbesondere zu dessen 1915 geschaffenen »Skizzenbuch aus dem Felde« offensichtlich. Denn die Idee von Schöpfung und Erneuerung steht sowohl bei Marc wie auch bei Winter im Mittelpunkt: Die Hoffnung auf einen Wiederbeginn nach der Apokalypse des Ersten beziehungsweise des Zweiten Weltkrieges.

Den »Triebkräften« Fritz Winters liegt jedoch auch ein spezifisch modernes Verständnis von Pflanze und Wachstum zugrunde, das die bedeutende Werkfolge aus der eindimensionalen Interpretation als Zeugnis des deutschen Geistes und Erbe der Romantik löst. Dieser aktuelle, übergreifende Gedanke findet bei Fritz Winter in der abstrakten und symbolischen Konzeption pflanzlichen Lebens seinen Ausdruck. Er wurzelt in Bildern von Paul Klee und wird bei Joseph Beuys und Per Kirkeby, die das Prozessuale, die Metamorphose der Pflanze thematisieren, weitergeführt.

Gerade die Werke Paul Klees, dessen Unterricht Fritz Winter am Bauhaus folgte, veranschaulichen dieses abstrakte Verständnis der Pflanze. Bei Klee findet die Idee pflanzlichen Wachstums im Sinne von Goethes Urpflanze auf vielfache Weise ihren Ausdruck, denn Paul Klee betrachtete die Pflanze als »einen abstrakten hohen Aufbau mit Verankerung in einem Lager« und dachte bei seinen häufig anthropomorphen, abstrakten Pflanzendarstellungen nicht »an irgendein Blümchen auf der Wiese«, wie er selbst feststellte.

Auch Joseph Beuys, der sich nicht nur in der Natur, sondern auch künstlerisch in frühen Zeichnungen mit Pflanzen, Blüten, Wurzeln beschäftigte, schildert einen abstrakten Prozess. Schon hier stößt man auf ein erstes Interesse am Strömen und Fließen, am Gestalt-Werden und Hervorbringen, dass das Denken und Schaffen des Künstlers später so einzigartig beschäftigen sollte. Für Beuys, dessen Pflanzenzeichnungen oft einen schematischen Charakter haben, wird das Bild der Pflanze – Keimung, Gestaltwerdung, Umwandlung – zum Bild der Metamorphose, die nicht nur im Goethe’schen, sondern auch im christlichen Sinn im Zentrum seines Kunstbegriffs angesiedelt ist.

Die Vorstellung wechselnder Erscheinungen und Strukturen, die sich übereinander schieben und das Motiv auf immer neue Weise erfassen, ist prägend für die Naturauffassung und Pflanzendarstellungen Per Kirkebys, die sich von einem metaphysischen Hintergrund weitgehend lösen. Mit den formalen Transformationen eines Baumes etwa thematisiert Kirkeby das Verhältnis zwischen Umriss und seinem Inhalt, zwischen Außen und Innen, zwischen Ansicht und Einsicht. Seine Bilder spiegeln eine Folge immer neuer Sichtweisen eines Naturausschnittes, eines Baumes, einer Pflanze. Der Maler verlegt den Begriff der Verwandlung damit gewissermaßen in das betrachtende Subjekt.

Während der Gedanke des Prozessualen, der Entwicklung in Natur, Kunst und Leben bei Fritz Winter seinen Ausdruck in vertikal wachsenden, abstrakt-vegetabilen Strukturen findet, verschiebt sich der Ablauf der Metamorphose bei Kirkeby in die Horizontale und in die Tiefe des Bildraums: Eine Erinnerung schiebt sich vor die andere, ein Zustand folgt dem Nächsten, ein Eindruck verwischt das zuvor Empfundene.

Pressetext

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Triebkräfte der Erde
Vegetabile Formen und Metamorphosebegriff
Kuratorin: Cathrin Klingsöhr-Leroy

Werke von Franz Marc, Paul Klee, Fritz Winter, Joseph Beuys, Per Kirkeby, Cy Twombly