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Eröffnung: 1. Juni, 19 Uhr

„Kunst ist das, was Welt wird, nicht, was Welt ist.“ (Karl Kraus, Pro Domo Et Mundo)

Für Karl Kraus war die Kunst eine Möglichkeit, von der Welt zu abstrahieren, um sie konkret sehen zu können. Die Ausstellung Um-Kehrungen im Haupthaus nimmt diese Vorstellung auf und zeigt junge, künstlerische Strategien, die sich vom denkbar konkretesten Standpunkt heraus dem nähern, was uns täglich als Welt begegnet, nämlich dem persönlichen Erfahrungshorizont. Nicht das Übergeordnete, Allgemeine ist hier Ausgangspunkt der Auseinandersetzung, sondern ein Ansatz, der vom Vertrauten und Privaten ausgeht. Das ausdrücklich Persönliche trägt das Allgemeingültige in sich. Auf der Grundlage einer Produktion von Mikrowelten eröffnen sich neue Perspektiven auf das Vertraute. Im Sinne von Kraus wird der subjektive Ansatz zum Hebel, den Blick auf das Bekannte „um-zu-kehren“ und damit Welt neu zu erschaffen – auf der Grundlage dessen, was als Welt bereits vorgefunden wird.

Oft setzen die Künstler/innen in Um-Kehrungen privates, alltägliches Material ein, um sich unbekannten Zuständen zu nähern. Das Vertraute wird im Fremden gesucht, das Fremde auf der Grundlage des Bekannten fassbar. So stellt etwa Carol Bove gebrauchte und damit aufgeladene Gegenstände wie Bücher, Tische, Zeitschriften und Designobjekte vom Ende der 1960er, Anfang der 1970er (dem so genannten New Age) zusammen, um mit dem Blick aus der Gegenwart die Faszination gesellschaftlicher Entwicklungen einer vergangenen Zeit zu untersuchen. Alexandra Bircken nutzt den alltäglichen, dem privaten Bereich zugehörigen Vorgang des Strickens und verankert die Titel ihrer Arbeiten wie die spießig-bürgerliche Holy Wood Schaukel im Bekannten, um abstrakte Konstruktionen von großem formalästhetischen Reiz zu schaffen. David Blandy macht sich in der orangefarbenen Robe des Shaolin Mönchs und mit einem tragbaren Kassettenrecorder in der Hand auf die leicht schlurfende Suche nach seinen kulturellen Wurzeln und versetzt seinen Weg durch englische Parks oder Großstadtschluchten mit Filmsequenzen aus Fantasy und Science-Fiction. Jonathan Monk begibt sich mit seiner Mutter auf eine Autofahrt zu seiner Schwester und fotografiert immer dann die Umgebung durch die Frontscheibe des Wagens, wenn die Mutter an den Straßenrand fährt, um sich des richtigen Weges zu versichern. Oder Özlem Sulak lässt Großmutter und Großtante vom Umzug der Familie von Sarajewo ins ländliche Anatolien der 1930er Jahre erzählen und wirft so einen sehr persönlichen Blick auf Diskursbegriffe wie „ethnische Identität“ und „Migration“.

Doch „das, was Welt wird“, kann auch durch die Betonung des Fremden im Vertrauten entstehen, die den durch Gewohnheit bestimmten Blick produktiv in Frage stellt. So erinnert sich Daniel Roth einmal bereister Orte oder Märchen der Kindheit und macht sie zum Ausgangspunkt von variationsreichen Bildgeschichten, die unmerklich von der Realität in Fiktion übergehen. Sofia Hultén findet einen Karton mit kleinen, persönlichen Gegenständen eines vormaligen Hausbewohners und entfernt alle Hinweise auf die Individualität der Objekte oder die Person des ehemaligen Besitzers. Udo Koch vermisst die Abstände zwischen den Blättern seiner Zimmerpflanze und überträgt sie nach mathematisch genauen Vorgaben in geheimnisvolle Skulpturen und Zeichnungen, deren Herkunft aus dem Bekannten sich kaum noch nachvollziehen lassen. Malte Urbschat überführt konkrete Erfahrungen des eigenen Körpers in abstrakte Installationsanordnungen. Und Hans Schabus macht das eigene Atelier zum Ausgangspunkt seiner Erkundungen von Welt, indem er von dort einen Schacht von Babel gräbt.

So unterschiedlich die künstlerischen Ansätze in Um-Kehrungen auch sein mögen, ist ihnen ein stark atmosphärischer Aspekt und, dem persönlichen Ansatz zum Trotz, ein distanzierendes Prinzip zu eigen. Durch die Herauslösung des Bekannten aus seinen ursprünglichen Zusammenhängen und die damit einhergehende Um-kehrung des Blicks wird ein Moment der Distanz im Umgang mit dem, was ist, gleichsam zwischengeschaltet, um Welt lesen oder, nach Karl Kraus, Welt werden zu lassen.

Anlässlich der Ausstellung erscheint ein Katalog in deutsch-englischer Sprache mit Kurztexten zu allen beteiligten Künstler/innen, einer ausführlichen Bilddokumentation sowie einem Text von Lars Bang Larsen zur künstlerischen Welterfassung auf der Grundlage des Vertrauten, Persönlichen und Privaten.

Die Ausstellung wird gesponsert von Veolia, Alba und der Niedersächsischen Lottostiftung.

INTERAKTION I

Parallel zur Gruppenausstellung Um-Kehrungen findet im Cuboid die erste Folge der Reihe Interaktion statt. Dafür wurde die Berliner Kuratorin Ariane Beyn eingeladen, auf die zeitgleich im Haupthaus stattfindende Ausstellung zu reagieren und so in „Interaktion“ mit ihr zu treten – etwa als Ergänzung, Unterlaufung oder Kommentar.

Die Ausstellung Interaktion I. Speakers’ Corner spiegelt die in Um-Kehrungen angesprochene Thematik des persönlichen Erfahrungshorizontes wider. Im Rahmen eines Filmprogramms untersucht Speakers’ Corner die persönliche Perspektive, wiedergegeben durch das Medium der menschlichen Stimme. Speakers’ Corner, der berühmte Versammlungsplatz zur öffentlichen Debatte im Londoner Hyde Park, entstand als Reaktion auf die sozialen und strukturellen Umwälzungen des aufkommenden Kapitalismus im 18. Jh. Weniger bekannt ist seine Geschichte als Hinrichtungsort, wo Verurteilte in einem karnevalesken Publikumsspektakel mit einer letzten Ansprache öffentlich Sühne zeigen sollten, einer letzten Gelegenheit zur freien Rede, die oft zur subversiven, kirchen- oder monarchiefeindlichen Agitation genutzt wurde. Speakers’ Corner ist traditionell und symbolisch ein Ort des Klassenkampfes, an dem die unterschiedlichsten Individuen – von Aktivisten politischer und sozialer Bewegungen, bis zu Scharlatanen und Freaks – die öffentliche Rede kultivieren.

Speakers’ Corner versammelt eine Auswahl künstlerischer Arbeiten, die mit der Performance der menschlichen Stimme als Signatur eines sprechenden Ich’s und Medium zur Adressierung eines Anderen, einer Öffentlichkeit experimentieren. Meist in der 1. Person Singular mimen sie Augenzeugenschaft, Liveness, Präsenz und Intimität. Die Ausstellung vereint dokumentarische Formen des Berichts und Kommentars, agitatorische Wortschwalls, Formen einer „Politik des Persönlichen“, die mit dem Slogan „das Persönliche ist politisch” in den 1970er Jahren ein neues Politikfeld eröffnete, sowie Performances, die den Gehalt der Sprache um den vokalen Ausdruck des Gesprochenen oder die persönliche „live“-Ansprache des Publikums erweitern. Unter Einsatz von poetischen Methoden wie Aggression, Tempo, Pathos sowie Verzögerung und Dauer werden unterschiedliche Medienformate, vom Lautgedicht bis zur Talkshow bearbeitet, kommentiert und unterlaufen. Die Präsentation zeigt filmische Werke in einer kinoähnlichen Installation.

Mit: Karl Holmqvist, Judith Hopf / Stephan Geene, Jesse Lerner, Maya Schweizer und Sean Snyder

Die Ausstellung wird unterstützt von der Deutschen Bank.

Vorträge (im Rahmen der Ausstellung Um-Kehrungen)

Donnerstag, den 28. Juni, 19 Uhr: Silke Schatz erläutert ihr künstlerisches Vorgehen

Donnerstag, den 05. Juli, 19 Uhr: Sofia Hultén erläutert ihr künstlerisches Vorgehen

Donnerstag, den 02. August, 19 Uhr: Peter Piller erläutert sein künstlerisches Vorgehen

only in german

UM-KEHRUNGEN
Alexandra Bircken, David Blandy, Carol Bove, Kathrin Horsch, Sofia Hulten, Udo Koch, Anita Leisz, Klara Liden, Jonathan Monk, Peter Piller, Patrick Rieve, Gert Robijns, Daniel Roth, Hans Schabus, Silke Schatz, Annika Ström, Özlem Sulak, Malte Urbschat
Kurator: Janneke de Vries
Haus Salve Hospes

INTERAKTION I
SPEAKERS’ CORNER
Karl Holmqvist, Judith Hopf / Stephan Geene, Jesse Lerner, Maya Schweizer, Sean Snyder
Kurator: Ariane Beyn
Cuboid