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Der Blick durch eine geöffnete Tür hindurch ist ein gern gewähltes Motiv in der Fotografie und läßt sich zurückverfolgen bis zu deren Erfindung vor mehr als hundertfünfzig Jahren. Das liegt an dem pittoresken Effekt des Durchgangs, der zum Rahmen eines Bilds im Bild wird, und an der Neugierde grundsätzlich aller Fotografen. Die freilich ist nicht nur der Auslöser für eine solche Aufnahme, sondern wird zugleich zu ihrem Thema. Auch von Walker Evans gibt es solch ein Foto, aufgenommen im Sommer 1936 in Hale County, Alabama, im Haus des Baumwollpflückers Floyd Burroughs. Es ist ein gespenstisches Bild.   Im Vordergrund, noch außerhalb des Zimmers, steht eine Schüssel auf einem Brett, daneben hängt ein Handtuch. Im Zimmer, also im Hintergrund, erkennt man einen Tisch, einen Stuhl und einen Schrank, außerdem einen Krug aus Steingut und eine Petroleumlampe - mehr gibt es kaum zu sehen; nicht einmal, so gewinnt man den Eindruck, ein Körnchen Staub auf dem Holzfußboden. Alles wirkt adrett, so anmutig, als habe der Alltag selbst hier ein kleines Idyll entworfen, in dem jeder Gegenstand zur Ikone wird, zum Symbol des ursprünglichen, unschuldigen Landlebens. Es dauert deshalb einen gehörigen Moment, bis man begreift, daß dieses Bild keineswegs von den Dingen erzählt, die es zeigt, sondern von denen, die fehlen. Es gibt, so versteht man plötzlich, kein fließendes Wasser im Haus, und es gibt kein elektrisches Licht. An den roh gezimmerten Holzwänden hängt nirgendwo ein Bild oder sonstiger Zierat, und die Latten sind weder gestrichen noch lackiert. Nicht einmal einen vernünftigen Haken hat man in dem Haushalt; weshalb das Handtuch über einen Nagel geworfen ist. Walker Evans' Fotografie ist ein Bild erschreckender Armut. Doch noch etwas ist zu sehen: die Türschwelle, auch sie aus grobem Holz. Gleichsam als Stolperstelle hat Evans sie eingebunden in seine Komposition, als habe er damit die eigene Zurückhaltung dokumentieren wollen. Als sei es ihm wichtig gewesen, die Grenze aufzeigen, die auch er nicht überschreitet. Dabei stellte sich ihm die Frage nach der Moral seiner Arbeit nicht allein angesichts der Menschen, in deren Haus und privates Leben er eingedrungen war, sie stellte sich ihm auch auf einer ästhetischen Ebene. Denn es waren harte, genaugenommen grausame Lebensbedingungen, denen er damals mit seiner Kamera Augenblicke von ergreifender Schönheit entriß. "It's not beauty in the conventional sense", hob er wie zur eigenen Verteidigung hervor: schon deshalb nicht, weil sie für jene nicht sichtbar sei, die in dieser Armut lebten. Und er sagte: "If an audience can only be moved by a picture of someone with his guts pouring out, they're not a very interesting audience."   Walker Evans war Mitte der dreißiger Jahre neben Fotoreportern wie Dorothea Lange, Arthur Rothstein und Russell Lee einer von insgesamt dreizehn Fotografen, die im Regierungsauftrag in den ländlichen Gebieten der amerikanischen Südstaaten die Auswirkungen einer fehlgeleiteten Wirtschaft und gleich mehrerer Naturkatastrophen dokumentieren sollten. Etliche Millionen Landarbeiter und Pachtbauern hatten ihre Arbeit verloren, ein Großteil irrte samt ihrer Familien durchs Land, meist Richtung Westen, im Vertrauen darauf, spätestens in Kalifornien der großen Depression zu entkommen. Durch die Fotos, so hoffte man im Landwirtschaftsministerium, würden die Öffentlichkeit über die Mißstände informiert und im Rahmen der New Deal Politik des Präsidenten Franklin D. Roosevelt ausreichend finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Zumindest Walker Evans jedoch war für Propagandamaterial nicht zu gewinnen. Im Schnittpunkt von Dokumentation und Kunst folgte er seiner eigenen Vision, in der kein Raum war für sentimentale Betroffenheit oder das Pathos der Anklage.   Evans, der ursprünglich Schriftsteller und Dichter werden wollte und dazu Mitte der zwanziger Jahre Amerika verlassen hatte, um an der Sorbonne in Paris Literatur zu studieren, sich aber bald seinen Mangel an sprachlichem Talent eingestand, entwickelte nun stattdessen mit der Kamera eine eigene Grammatik und Bildsprache. Sie war von vollendeter, dramatisch moderner Poesie - harmonisch war sie selten; im Gegenteil. An den Bruchstellen der Zivilisation entzauberte Evans mit doppelbödigen Aufnahmen ein ums andere Mal den amerikanischen Traum. Es war ein kalter, analytischer Blick, den er auf die Alltagskultur in den Dörfern und Kleinstädten des Südens richtete, auf Kirchen, Scheunen und Tankstellen, auf Fassaden voller zerfetzter Werbebotschaften, auf die armseligen Einrichtungen der Wohnhäuser oder die überfüllten Regale in den Läden, in denen niemand mehr einkaufen konnte, weil niemand mehr Geld hatte, und sogar auf die Bewohner selbst. Selten konterkarierte er dabei die Versprechen der Konsumwelt oder der Unterhaltungsindustrie mit der Wirklichkeit so augenfällig wie in dem Foto trister Reihenhäuser, vor denen auf einem Kinoplakat Carole Lombard "Love before Breakfast" verspricht. Selten traten die Schrottseiten des Kapitalismus so buchstäblich zu Tage wie auf dem Foto der zu einem Monument erstarrten verrosteten Karosserien auf "Joe's Auto Graveyard" in Pennsylvannia. Und einmal konnte er der Versuchung nicht widerstehen, das Kreuz eines Grabsteins mächtig und schwer vor die Phalanx toter Industrieschlote zu plazieren. Meist aber waren die Ebenen ungleich komplizierter miteinander verwoben, gleichwohl die Perspektive der Kamera nur selten von der frontalen Draufsicht abwich und die Motive dadurch stets zumindest ihrer optischen Tiefe beraubte.   Walker Evans war es um nicht weniger zu tun, als einen Katalog des amerikanischen Alltags zu erstellen, in dem Form und Wesen noch der banalsten Objekte inventarisiert werden sollten. Welch radikale Sicht sich hinter seiner vermeintlich emotionslosen Chronik verbarg, blieb schon damals nicht unbemerkt. Die Farm Security Administration verließ er 1937 im Streit mit deren Leiter Roy Stryker. Das Museum of Modern Art in New York hingegen feierte die Aufnahmen - und widmete Walker Evans 1938 nicht zuletzt mit den Bildern ebenjenes Regierungsauftrags als erstem Fotografen überhaupt eine Retrospektive. Evans war damals noch nicht einmal vierunddreißig Jahre alt, fotografiert hatte er erst seit zehn Jahren. Doch die Bilderschau würde stilbildend wirken für eine ganze Generation kommender Fotografen: von Robert Frank und Diane Arbus über Lee Friedlander und Garry Winogrand bis William Eggleston und William Christenberry - während er selbst bis zu seinem Tod im Jahr 1975 immer wieder neue Themen suchte und neue Techniken erprobte. Die Ausstellung wirkte aber auch stilbildend auf das kollektive Gedächtnis Amerikas. Bis heute ist das Bild der Depressionszeit bestimmt von den Aufnahmen Walker Evans'. Von seinem gnadenlos scharfen, unstillbaren Blick. Pressetext