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Wenn Verfahren von Geschichtsschreibung hinterfragt und verfügbare Geschichte neu kombiniert wird, dann entstehen mit den Mitteln (historische Erzählung, Kostüme, Architektur), die für die Repräsentation von Geschichte verantwortlich sind, neue Möglichkeiten jenseits des historischen Establishments. Dabei passiert keine unmittelbare Wiederholung des Vergangenen, wie es etwa das Konzept von live zu erlebender Geschichte (Live History) anstrebt, sondern sie wird re-interpretiert oder in zukünftigen Geschichten erweitert. Mich interessiert, was zwischen dem vorgefundenen Material und dem neu eingesprochenen, inszenierten Ereignis entsteht. Denn es kommt darauf an, chronologische Zeitläufe zu unterbrechen und zu verändern, etablierte Erzählformen zu hinterfragen, darauf hin anders zu berichten und Geschichtsschreibung kontrafaktisch zu praktizieren.

Volker Eichelmann hat in Großbritannien Schaubauten (Follies) und Grotten aus den letzten drei Jahrhunderten besucht und aufgenommen: Follies haben keinen eigentlichen Gebrauchswert, waren teils als Ruinen geplant und stehen als Zeichen für einen Überfluss (an Zeit und Geld) in Gärten und Landschaften, darunter ein dreieckiger Turm und ein Ananas Haus. Mit Eichelmanns Film „Follies and Grottoes“ ist eine umfangreiche Sammlung missverständlicher Bauten zusammen gekommen, aus denen das eigensinnige Begehren spricht, eine vergangene Zeit in die Gegenwart zu holen. Dafür bedienten sich die Urheber gotischer, romanischer und antiker Stilelemente, die sie mit fiktiven Formen kombinierten. Aus variierenden Perspektiven inszeniert Eichelmann diese privaten Inszenierungen ein weiteres Mal, in dem er Kameraeinstellungen wählt, die die umgebende Natur als Dekor einsetzen oder auf andere Weise die Absurdität des Gebauten verstärken.

In den USA werden die Personen, die Führungen zu historischen Plätzen anbieten, als „historical interpreters“. Sharon Hayes hat für ihre Videoarbeit „The Interpreter Project“ die einzigen vier der über 70 National Historic Sites aufgesucht, die Frauen (Eleanor Roosevelt, Clara Barton, Mary McLeod Bethune, Maggie L. Walker) gewidmet sind. Vor dem jeweiligen Haus „re-interpretiert“ Hayes die Führungen, indem sie die Aufnahme ihres Skripts über Kopfhörer hört und simultan wiedergibt. Mit dem Wiederholen der Erzählungen wird die Funktionsweise historischer Zuschreibungen entlarvt und deutlich gemacht, wie sich „Oral History“, persönliche Anekdoten und memorierte Jahreszahlen, zu einer Geschichte zusammensetzen. Die Ausstellung zeigt die Aufnahmen zu der Politikerin und Abgeordneten Mary Jane McLeod Bethune, die bessere Bildungschancen für die Schwarzen durchgesetzt hat, und ihrer Zeitgenossin, der Menschenrechtlerin und First Lady Eleanor Roosevelt.

Anja Kirschner erzählt in ihrem Film „POLLY II“ von einer Revolution, die sich in der nahen Zukunft abspielt. Grund für den Aufstand ist der Gentrifikationsprozess im Londoner East End. Ausgehend von John Gay’s Oper „Polly“ (1727) entwickelt Kirschner die Charaktere ihres Films: In den überfluteten Docklands kommen Piraten und Piratinnen als Gespenster aus Englands maritimer Vergangenheit der ansässigen Bevölkerung im Kampf gegen die Investoren zu Hilfe. Für die Bildkomposition orientierte sich Kirschner an den sozialpolitischen Illustrationen des britischen Karikaturisten William Hogarth, einem Zeitgenossen Gay’s. In den vier Szenen des Films mischen sich historische Referenzen, TV-Drama-Gestik und Science-Fiction-Effekte.

In ihrem Video „Modell Figur“ notiert Karolin Meunier scheinbar sachlich ein Diagramm, in dem sie sich konzeptionell mit Kommunikationsmodellen beschäftigt und das beim Versuch logischer Verknüpfung von wissenschaftlichen Vorlagen abweicht. Durch das vorsichtige Definieren öffnen sich neue Interpretationsräume. Die dabei thematisierte Relevanz des Fiktiven für das wirklich Geschehene oder Erinnerte bildet auch den Anlass für ein weiteres Video, das mit historischem Bildmaterial arbeitet und wie eine Fußnote dem Diagramm gegenübersteht. Ergänzt wird die Installation „Modell Figur (Set #2)“ durch die Publikation “Der Entwurf des Adressaten”, die soeben in der Reihe “Kombinator” des Material-Verlags erschienen ist.

2004, wenige Tage bevor die Republican National Convention stattfand, hat Allison Smith ihre Künstlerfreunde auf den Landbesitz der Künstler Mark Dion und Morgan Smith in Pennsylvania zu der mehrtägigen Veranstaltung „The Muster“ eingeladen. Mit der Frage „What are you fighting for ?“ waren die Gäste dazu aufgerufen, sich die populären Bürgerkriegsschauspiele (Civil War Reenactment) anzueignen und kämpferische Forderungen für ihre Zukunft aufzuführen. Ergebnis dieser Parodie auf patriarchale Folkore und Nationalstolz ist eine Fotoserie, in der die Teilnehmer/innen in fiktiven Uniformen ihre Anliegen darstellen und so die Mechanismen von gespielter Geschichte affirmativ umdeuten.

Volker Eichelmann, Follies & Grottoes, 2003-2006 Sharon Hayes, aus The Interpreter Project, Site #76 und Site #84, 2001 Anja Kirschner, POLLY II – Plan For a Revolution in Docklands, 2006 Karolin Meunier, Modell Figur (Set #2), 2006 Allison Smith, aus The Muster, 2004

Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds

Pressetext

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Was Wäre Wenn #4
Über Geschichte verfügen
kuratiert von Vera Tollmann

mit Volker Eichelmann, Sharon Hayes, Anja Kirschner, Karolin Meunier, Allison Smith