press release only in german

Wenn Thomas Mann zu Beginn seiner Josef-Romane die Zerstörung der Form beklagt: "Eine gewisse Charakterschwäche des Geistes tritt hier zutage, dergestlt, daß, er seinen Ruf, das tödliche auf Zerstörung der Formen ausgehende Prinzip zu sein, sehr schlecht erträgt und seine Ehre daransetzt, ihn los zu werden...", so fährt er unentschieden fort, "ob freilich dem Geiste ein solch verräterisches Verhalten auch nützt..., die Frage bleibt offen."

Ähnlich könnte man den Vorgang der Kunst des 20. Jahrhunderts sehen. Denn wo Kunst sich von der Realität (bei Thomas Mann: die Zerstörung der Formen) abwendet, weil sie sich durch sie eingeschränkt fühlt, öffnet sie sich - so lehrt uns die Kunstgeschichte - durch die Freiheit vom Gegenstand, durch den Zufall und auch durch die Willkür einer neuen Ästhetik. Realität indes, und das sehen wir an den Arbeiten Tübkes, mindert die künstlerische Imagination keineswegs, erschöpft sie sich doch nicht alleine im Aufnotieren des Beobachteten. Im Gegenteil, mögen alle real wahrgenommenen Dinge auch nur Schein sein, ein leeres Trugbild unserer visuellen Wahrnehmung, so ist es doch unmöglich, ganz ohne sie auszukommen und so zu tun, als seien sie nicht vorhanden. Die Illusionen über den Wahrheitsgehalt sind zwar im 20. Jahrhundert zerronnen, das realistisch gezeichnete indes ist "handwerklich gebunden und kann letztlich nur durch sich selbst überzeugen"(Tübke). Dabei ist es müßig zu sagen, daß sich eine gegenstandsbezogene Kunst gegenüber früheren Zeiten gewandelt hat.

Der Große Zeichner A. von Menzel zum Beispiel, der sich noch in den Wettstreit mit der Photographie einließ, glaubte zurecht daran, daß die Zeichnung mehr an Anschaulichkeit und mehr an Realität enthalte als die Photographie. Der Reiz der Zeichnung liegt in der Lesbarkeit, und diese wird geführt durch den Duktus, die Strichführung, an dem man den Rang des Zeichners erkennen kann. An ihm läßt sich nicht nur der Charakter der Zeichnung ablesen, sondern auch der Charakter des Interpreten. Selbst wenn das Primat der Linie bei der Bewertung des Bildgegenstandes erhalten bleibt, so vermag die Einzellinie im Ansatz die Botschaft des Ganzen zu vermitteln. Der Grad der Könnerschaft wird an der Lineatur meßbar. Hier wird dem Künstler nichts geschenkt. Mehr als andere Verfahren setzt die Zeichnung darüber hinaus ein unmittelbares und intensives Sehen voraus. Natürlich, fast überflüssig zu sagen, bleibt Tübke nicht im bloßen Abzeichnen stecken. Das geht ganz unmittelbar aus der Skurrilität der Figuren hervor, aber auch bei den Porträts und den scheinbar wahrheitsgetreuen Landschaftswiedergaben geht Tübke über die Übung von Hand und Auge hinaus. Das zeigen selbst die Zeichnungen und Aquarelle, die vor Ort entstanden sind, die eine Wandlung mitmachen vom Naturalismus des Gegenstandes zur Neuerschaffung des Beobachteten. Seine Gebilde haben nur noch bedingt etwas mit Naturalismus der Wirklichkeit zu tun, sie folgen einem eigenen Formenapparat. Besonders in der skizzenhaften Aufnahme der Dingwelt als den spontansten Ausdruck künstlerischer Aneignung bleibt die innere Teilnahme des Zeichners nicht verborgen. Die Strichführung nimmt seismographisch die Spuren des Erlebnisses auf und gibt in besonders intensiver Form die Begegnung mit dem Objekt wieder, wobei mitunter die Knappheit der Ausführung den unmittelbaren und nicht ausführlich reflektierten Gedanken begünstigt und dadurch die charakteristische Eigenart der persönlich zeichnenden Handschrift zum Ausdruck kommt.

Wenn sich Tübke zum Beispiel mit Figurationen beschäftigt, so würde alleine Spontaneität, Präzision und pedantische Genauigkeit trocken wirken. Das sind Eigenschaften, die ihm den Rohstoff liefern. Es ist eben nicht das äußere, oft antiquarisch anmutende Erscheinungsbild, das den Reiz ausmacht, sondern die ästhetische Präsentation, die sich in einzigartigen Stimmungsqualitäten äußert. Ohne Inspiration und Phantasie würden die Zeichnungen zum bloßen Eklektizismus herabgestuft. Denn wie Tübke selbst bekennt,: "Quellgebiet der Inspiration ist ein elementares Bedürfnis, alles andere kommt dann." Wir können sagen, was das äußere Auge sieht, wird durch das innere Auge gestaltet. In eigentümlicher Stilisierung, die Empfindung und Reproduktion zugleich ist, wirken die im buchstäblichen Sinn verrückten Gestalten geheimnisvoll, beklemmend und bestürzend. Tübkes Anschauung mischt sich mit Reflexion, das Zeitgenössische mit historischer Vergangenheit, Gegenpole, die ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufbauen. Die Reflexion hängt bei Tübke immer mit Formvorstellung zusammen, denn "ohne Vision, Formvision", wie er sagt, "und merkwürdiger Bedeutungsperspektive geht es beim Zeichnen nach der Natur nicht." Eine eigentümliche Wandlungsfülle auch im Technischen zeigt Tübke in den späten Bleistiftzeichnungen, wo der weich modellierende Strich die Texturen des grobkörnigen, schrundigen und oft gefärbten Papiers mit einbezieht und facettenreiche Valeurs hervorbringt. Die Ausdrucksschichten werden hier aus der Struktur des Papiers herausgearbeitet. Das Körperhafte aber geht dann insofern in der Textur des Papiers auf, als die Dichte der Linien und Schraffuren die dargestellten Objekte bezeichnen. Das weich modellierende Liniengespinst, gebündelt, engmaschig oder in durchscheinenden Schattenpartien, manchmal rissig und spröde, nimmt der Dingwelt die feste Konsistenz und legt sich wie ein Schleier über die Gegenstände. Die Lineatur und Schraffur interpretiert in fast transparenten Flächen den Raum als Stimmungsraum und bringt die Oberfläche des Papiers in leichte Schwingungen. Dabei bindet das homogene Liniengeflimmer von Licht und Schatten die Formen zusammen. In dieser Technik erzielt Tübke fast luminaristische, atmosphärische Effekte, die die Darstellungswelt als unkörperlich schwebend erscheinen läßt. Hier versteht es der Zeichner, durch Verflechtung von Licht und Schatten alle Bildteile in Beziehung zu setzten und einen einheitlichen Bildorganismus zu schaffen. Handelt es sich bei diesen Blättern um Personen, so waltet auch die manieristisch stilisierte Phantasie. Fast wirken die mechanisch anmutenden Kunstfiguren wie Marionetten, die formal durch Schraffuren und Strichstrukturen ineinander verwoben sind.

In Tübkes oft von sinnlicher Gegenwart geprägten Bildnissen schimmert immer etwas von der Gefährdung der Person durch. Die eindringliche Analyse läßt sie skeptisch und selbstkritisch erscheinen. Entweder ist ihr Blick nach innen gewandt oder sie blicken mit kritisch gespannter Aufmerksamkeit in die Welt. Das, was wir in den Figurationen als grotesk wahrnehmen mögen, spiegelt sich beim Porträt in der sensiblen Mimik.

In den Landschaftsaquarellen ist gegenüber dem Figurativen eine gewisse Ruhe und Gelassenheit spürbar. Die Landschaftsaquarelle bilden selten einen Schauplatz für Figurationen. Sie verdichten sich, so könnte man sagen, zur reinen Anschauung freilich in persönlicher Sicht, können wir in ihnen doch auch manieristische Effekte feststellen. 'Reine Anschauung' ist so zu verstehen, daß sich Tübke in die Landschaft hineinversenkt. Gemeint ist damit die subjektive Einstellung, welche die eigene Erfahrung und das eigene Erlebnis als Impuls für eine künstlerische Neuschöpfung mit einbezieht. Tübke folgt zwar in der Wiedergabe der gewachsenen Natur, gibt ihr aber nach eigener Vorstellung Kolorit, Lichtverhältnisse, geologisch vegetative Zusammenhänge. Wenn sich die Farbbahnen ineinander schichten, eignet ihnen etwas in ihren dumpfen Farbqualitäten vom Archetypischen, Ursprünglichen, einer zwar gesehenen, aber zu gleichen Teilen erlebten phantomhaften Landschaft.

Die Arbeiten Tübkes erscheinen uns heute vielfach rätselhaft. Bei dem Versuch der Entschlüsselung bleibt vieles in Vermutung stecken. Das scheinbar vertraute ist doch wieder fremd. Mit Tübkes Worten können wir sagen:"Es bleibt alles so, wie es niemals war." H.F.

Pressetext

only in german

Werner Tübke - Zeichnungen und Aquarelle