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Die Einzelausstellung des Bildhauers und Autors Wilhelm Klotzek (*1980) »Und die Uhrzeit läuft einfach immer weiter« bei NOTE ON beruht auf seinem intermedialen Konzept des »visuellen Gedichts«. Den Begriff der »sozialen Plastik« aktualisierend, verarbeitet er die Hinterlassenschaften der DDR und der deutschen Teilung. Aufgewachsen in Ostberlin, studierte Klotzek freie Kunst unter anderem bei Inge Mahn, Lothar Baumgarten und Else Gabriel. Seine künstlerische Praxis ist geprägt von der Bildhauerei, Poesie, dem Büchermachen und der Architektur – mit besonderem Schwerpunkt auf lebendigen Formen der Erzählung. Klotzeks Gedichte, Kurzgeschichten, Lieder, Hörstücke, Künstlerbücher und Skulpturen verbinden subjektive mit kollektiver Geschichte, private mit politischen Ereignissen, indem zum Beispiel ungeliebten Architekturen eine Stimme verliehen wird - wie in dem Buch »Konkrete Oberflächen« (2011) geschehen, das er gemeinsam mit Vincent Grunwald im AKV Verlag herausgab.

Im Eingangsbereich befindet sich das »Skulpturenkollektiv Ostpro« (2010) in einem braun getäfelten Raum, das Klotzek ursprünglich für eine Ausstellung im Kunstraum »Splace« am Fuße des Berliner Fernsehturms umgesetzt hat. Ostpro ist eine Messe, die – 1991 gegründet – Produkte ostdeutscher Firmen präsentiert. Die drei rechteckigen Glasskulpturen bestehen aus einer Stahlfassung mit eingelassenem Butzenglas. Im Inneren der virtrinenartigen Objekte befinden sich »traditionelle« ostdeutsche Produkte wie Werder Ketchup, Bautz’ner Senf, Spreewaldgurken oder Rotkäppchen Sekt. Diese Nahrungs- und Genussmittel sind jedoch durch das gelb getönte Glas so gut wie nicht identifizierbar. Sie lagern im domestizierten Schaufenster, bis ihr Haltbarkeitsdatum und ihre kollektive Symbolfunktion überdauert sind.

Im großen Ausstellungsraum wird die bildhauerische Auseinandersetzung mit Geschichte und Wohnkultur der DDR fortgesetzt. Das »Kanapee II« (2012) und die »Lampe mit Behinderung« (2012) sind hybride Skulpturen zwischen wohnzimmerähnlichem Mobiliar, Display und Ausstellungsobjekt. Die Epidemie privat und öffentlich getragener Renovierungen und die damit einhergegangene Eliminierung historischer Spuren in der Nachwendezeit sind Phänomene, die Klotzek seit seiner Jugend beobachtet hat. Zwei Protagonisten der Gentrifizierung werden im Hörstück »Die Wohnung« (2012) karikiert, in dem sich ein Gespräch zwischen einem Makler und einem Interessenten grotesk zuspitzt. Ein zweites Hörstück namens »Tom und Chérie« (2012) inszeniert den Zwiespalt eines jungen Paares, das in einem Poster gefangen ist, »abhauen« möchte und sich doch nicht vom Fleck bewegen kann. Das herzförmige Bild gehört zur Ausstattung des einladenden »Kanapees II« (2012). Seine dumpfe Farbgebung und der mit gelbem Kunstle der überzogene Schaumstoff fließen mit losen Wortfragmenten wie »AS-KUSS-PHALT«, »UNTEN« oder »MITTE-BITTE« zusammen und laden zu Ehren von Tom und Chérie zur Rast ein. Gesten des Improvisierten und Dysfunktionalen sowie Ungelenkes und Spontanes kennzeichnen Klotzeks Kunstwerke aus lackierten Spanplatten, Stahl, Rohbeton, Kabelbindern sowie die geplotteten Worte, mit denen sie bekleidet sind.

Klotzek streut in seine Rezeption der Nachwendegeschichte viel »Kies« und Unwägbarkeiten. In der Wandarbeit »Schwangere Auster« (2012) ragt die Frage »COMMENT VAS-TU AUJOURD’HUI?« in den Hörer hinein und wird mit dem Berliner Spitznamen für die 1957 erbaute Kongresshalle im Berliner Tiergarten »SCHWANGERE AUSTER« beantwortet. Das heutige »Haus der Kulturen der Welt« wurde von den USA noch vor dem Mauerbau in Sichtweite der Ostberliner Nachbar_innen als architektonischer Gruß der »freien Welt« an Westberlin geschenkt. Daneben steht die »Lampe mit Behinderung« (2012) und wird ihrem Auftrag, durch die Betonplatten hindurch Licht zu spenden, nur teilweise gerecht. Ihr Inneres gleicht einer archäologischen Fundstelle. Die Bewegungen der ockerfarbenen Strichmännchenfigur »Keine Zeit, Mann!« (2012), die über Kopf an der Decke montiert ist, sind eingefroren, ihr beherzter Laufschritt und die spitze Nase täuschen dennoch nicht darüber hinweg, dass die Figur vor dem Durchgang eingerostet ist und die Anzeige ihrer digitalen Einweguhr das Einzige ist, was sich verändert.

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press release:

The solo exhibition by sculptor and author Wilhelm Klotzek (*1980) »Und die Uhrzeit läuft einfach immer weiter« at NOTE ON is based on his intermedial concept of a »visual poem«. As he reconsiders the term »social sculpture«, he reprocesses the aftermath of the GDR and the german division. Raised in former East Berlin, Klotzek studied art with Inge Mahn, Lothar Baumgarten and Else Gabriel among others. His practice is influenced by sculpture, poetry, bookmaking and architecture - with a particular emphasis on vivid forms of narration. Klotzek’s poems, short stories, songs, audio plays, artists’ books and sculptures link subjective and collective history, private and political events– i.e. by lending a voice to unpopular architecture in his book »Konkrete Oberflächen« (2011) that he published with Vincent Grunwald at AKV Verlag.

The entrance area features a room covered in brown panels with »Skulpturenkollektiv Ostpro« (2010) which Klotzek originally installed at Kunstraum »Splace« at the base of the Berlin TV Tower. Founded in 1991, Ostpro is a fair that highlights East German products. The three rectangular glass sculptures consist of steel constructions with inserted bull’s eye glass. Resembling display cases, these objects house »traditional« East German products, such as Werder Ketchup, Bautz’ner Senf, Spreewaldgurken or Rotkäppchen Sekt. However, because of the glass’s yellowish tint, the food products and delicacies are hard to identify. They are stored in a domesticated shop window, until their date of expiry and collective symbolic meaning is out of date.

The confrontation of the GDR’s history and interior design culture continues through the main room. »Kanapee II« (2012) and »Lampe mit Behinderung« (2012) are hybrid sculptures between display, exhibit objects and living room furnishings. Since his youth Klotzek has been closely observing the phenomenon of an epidemic of privately and publicly funded renovations and the accompanying elimination of historic traces during the post-Wall era. In »Die Wohnung« (2012) two protagonists of the gentrification process are ridiculed as a talk between a real estate agent and a client escalates to a grotesque point. Another radio play, »Tom und Chérie« (2012), enacts the conflict of a young couple which is trapped in a poster and wants to flee but can’t seem to make any headway—the heart shaped image is part of the installation »Kanapee II« (2012). The muted color scheme and faux leather covered foam combined with loose fragments of words such as »AS-KUSS-PHALT«, »UNTEN« or »MITTE-BITTE«, are an invitation to take a break in honor of Tom und Chérie.

Klotzek’s work of varnished particleboard, steel, concrete, cable binders and plotted words is characterized by gestures of improvisation, by dysfunctional, awkward and spontaneous moments. His perception of post-Wall history is laced with »gravel« and uncertainties. The wall-piece »Schwangere Auster« (2012) projects the question »COMMENT VAS-TU AUJOURD’HUI?« into the listener and answers it with the expression »SCHWANGERE AUSTER«, Berlin’s nickname for the congress hall built in 1957 in Berlin-Tiergarten. Today’s »Haus der Kulturen der Welt« was a present made by the USA to West Berlin before the wall and meant as an architectural greeting from the »free world« to its East Berlin neighbours. Right next to it, »Lampe mit Behinderung« (2012) struggles to accomplish the task of emitting light through concrete slabs while its inner sides resemble an archaeological site. »Keine Zeit, Mann!« (2012) is mounted on the ceiling upside down. The movements of the ocherous stickman are frozen, his determined gesture of pace and pointy nose cannot hide the fact that he is rusty and the only change is in the display of a disposable digital clock.

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Wilhelm Klotzek
Und die Uhrzeit läuft einfach immer weiter

Künstler:
Wilhelm Klotzek

Kuratoren:
Ulrike Gerhardt