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Das 20. Jahrhundert hat in der Kunst große, eindrucksvolle Erfindungen und weite Aufbrüche in neue Bilderwelten zur Erscheinung gebracht. Was mit der Suche nach neuen Ausdrucksformen begann und in der Geschichte der abstrakten Kunst als eine Befreiung der Künste von allem Gegenständlichen gefeiert wurde, ist zum Ende des Jahrhunderts wieder zur Figur, zum Objekt, zur Welt zurückgekehrt.

„Wunderkammer“ schöpft aus den bedeutenden Sammlungen des Sprengel Museum Hannover und deren reichen Beständen an Skulptur und Malerei des 20. Jahrhunderts, etwa aus der Sammlung Margrit und Bernhard Sprengel und der Sammlung der Abteilung Moderne des Provinzialmuseums. In einer umfassenden Übersicht sind hier einzigartige Positionen der Kunst des 20. Jahrhunderts zu entdecken. Der Blick auf unsere Sammlung wird geleitet von der Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur und erkundet die Beziehung der Skulptur zum eigenen, sie umgebenden oder sie einbeschreibenden Raum. Jedes Kunstwerk ist eines, das Raum besitzt und Räume schafft: Eine Skulptur erzeugt aus ihrer eigenen Räumlichkeit heraus ein Verhältnis zum Raum des Betrachters, der im Umschreiten selbst wiederum einen Beziehungsraum zu dieser errichtet. Auch das gemalte Werk setzt den eigenen Bildraum immer in Beziehung zum Realraum des Betrachters.

Die Ausstellung folgt der Chronologie der Kunstgeschichte in einem Gang durch sechs Räume; sie beginnt mit der sich auflösenden, abstrahierenden und frei werdenden menschlichen Figur in den Skulpturen von Bernhard Hoetger, Wilhelm Lehmbruck oder Ernst Barlach. Diese Positionen finden ihren Kontrast in archaischen Formulierungen, Erfindungen der Moderne im Rekurs auf alte oder außereuropäische Sehweisen, wie sie im Werk von Alexander Archipenko oder Rudolf Belling sichtbar werden. Begleitet wird diese Gegenüberstellung von Gemälden der Künstler Edvard Munch, Juan Gris, Ernst Ludwig Kirchner und Emil Nolde, in denen sich auf eindringliche Weise die Entwicklung des Bildes von Mensch und Raum zeigt.

Der Fortführung des begonnenen Diskurses in der Kunst seit Anfang der 1920er Jahre kann in Werken verschiedener künstlerischer Positionen nachgespürt werden: im abstrahierenden Ansatz der Arbeit Henri Laurens’, in der strengen Formgebung der Emy Roeder, in den bewegten, sich befreienden Figuren von Ernst Barlach, Georg Kolbe oder Renée Sintenis. Im Bereich der Malerei setzt sich dieser Diskurs in neuschöpferischen Formulierungen von der Welt fort. Die Ausstellung führt sie in Gemälden von George Grosz, Emil Nolde, Lou Loeber, Martel Schwichtenberg oder Oskar Kokoschka vor Augen.

Der dritte Raum, der die späten 1920er und frühen 1930er Jahre thematisiert, stellt die abstrahierende Gestaltung von Alexander Archipenko, Henri Laurens, Max Ernst und Julio Gonzalez den deutschen Positionen eines Hermann Blumenthal oder Joachim Karsch gegenüber; Gemälde von Oskar Schlemmer und Christian Rohlfs schaffen einen bildlichen Gegenklang in diesem Raum.

Die Diversifikation der künstlerischen Verortung in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren, in Europa geprägt von der schrecklichen Erfahrung des Krieges, von Emigration und Widerstand der Künstler gegen die Vernichtung ihrer Welten, beschreiben in der Ausstellung so gegensätzliche Werke wie Arbeiten von Julio Gonzalez und Käthe Kollwitz sowie die Figuren von Henri Laurens und Kurt Schwitters. In den Jahren nach dem Krieg, bis in die 1960er Jahre hinein, entwickeln sich Visionen von Menschlichkeit, neuer Figur und überlebender menschlicher Figuration in Werken von Hans Arp, Max Beckmann, Henri Laurens oder Niki de Saint Phalle.

Die strenge Form einer sinnstiftenden Abstraktion ist es schließlich, die mit dem Werk von Eduardo Chillida im letzten Raum ins Zentrum rückt. Sie wird konfrontiert mit Skulpturen von Hans Arp und Barbara Hepworth sowie Gemälden von Ronald B. Kitaj, Francis Bacon und Jean Dubuffet.

Die Ausstellung „Wunderkammer“ argumentiert mit dem Bestand der Sammlung. Sie spürt Entwicklungen nach, die im gemeinsamen Konzert der Werke in der Präsentation auf besondere Weise herausklingen; es sind dies Grundfragen der Kunst des 20. Jahrhunderts, die angesichts aller zeitgenössischen Diskurse von fundamentaler Bedeutung geblieben sind. Denn letztlich bleibt in der vielfältigen, heute sichtbaren Situation erfahrbar, dass der Weg der Abstraktion auf der einen Seite und die Entscheidung, am Gegenstand festzuhalten, auf der anderen Seite nicht zu einem unauflöslichen Widerspruch geführt haben. Vielmehr haben sie in unserer heutigen Kunst ein neues Miteinander und vielfältige Möglichkeiten in Malerei und Skulptur hervorgebracht. Den Weg dahin beschreibt „Wunderkammer. Figur und Raum – von Archipenko bis Niki de Saint Phalle“.

Die Ausstellung wird gefördert von der NordLB.

Ulrich Krempel

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Wunderkammer
Figur und Raum – von Archipenko bis Niki de Saint Phalle

Künstler: Alexander Archipenko, Hans Arp, Francis Bacon, Ernst Barlach, Max Beckmann, Rudolf Belling, Hermann Blumenthal, Eduardo Chillida, Jean Dubuffet, Max Ernst, Julio González, Juan Gris, George Grosz, Barbara Hepworth, Bernhard Hoetger, Karl Hofer, Alfred Hrdlicka, Joachim Karsch, Ernst Ludwig Kirchner, Ronald B. Kitaj, Oskar Kokoschka, Georg Kolbe, Käthe Kollwitz, Henri Laurens, Wilhelm Lehmbruck, Jacques Lipchitz, Lou Loeber, Henry Moore, Edvard Munch, Emil Nolde, Pablo Picasso, Man Ray, Germaine Richier, Emy Roeder, Christian Rohlfs, Niki de Saint Phalle, Oskar Schlemmer, Martel Schwichtenberg, Kurt Schwitters, Renée Sintenis ...