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Angesichts der heiß diskutierten EU-Erweiterung durch die Türkei, die Ende des Jahres entschieden werden wird, ist es notwendig, dieses Land im Schnittpunkt von Orient und Okzident besser kennen zu lernen. Wie die so eben Karlsruhe angelaufenen beiden Ausstellungen „call me ISTANBUL ist mein Name“ im ZKM und „sisters and brothers and birds“ im Badischen Kunstverein sowie die Ausstellung zeitgenössischer türkischer Kunst in der Galerie K & S in Berlin ist „Yalan Dünya“ ein weiterer Beitrag zur Ausdifferenzierung der hochinteressanten Kunstszene der Türkei, die wir vor allem durch die Präsenz international arbeitender türkischer KünstlerInnen zu kennen glauben. Zu der von der Gruppe Hafriyat konzipierten Ausstellung „Yalan Dünya“ erscheint ein Katalog, 112 Seiten, mit farbigen Abbildungen und mit Texten (deutsch/englisch/türkisch) von Hakan Gürsoytrak, Caner Karavit, Emre Zeytinoglu sowie einem Text von Dr. Justin Hoffmann.

Als live-performender Künstler mixt Serhat Köksal zur Eröffnung unter dem Motto „no turistik no egzotik“ raue Elektronika mit Istanbuls Straßenlärm-Kulisse und Ghetto-Blaster-verzerrtem Orient-Pop. In Analogie zum Sound dekonstruiert Köksal neben seiner Arbeit an Sampler und Elektronik zusätzlich türkische Filme der 70er Jahre.

Lokal nach global und zurück Die Istanbuler Künstlergruppe Hafriyat steht mit ihrer künstlerischen Praxis im Spannungsfeld zwischen lokaler Bildtradition und den Einflüssen des internationalen Kunstsystems. Eine Positionsbestimmung in dem komplexen Gefüge von extern definierten Standards des Kunstmarkts und eines an der Moderne orientierten Akademismus türkischer Prägung ist jedoch nicht einfach. Hafriyat unternimmt in dieser Situation den Versuch, einen eigenen Raum abzustecken. Ein Aktionsfeld, das flexibel ist und sich in einem permanenten Prozess befindet. In diesem Geschehen werden auch vergessene und lange Zeit unbeachtete Phänomene wieder ans Tageslicht gefördert. Die Gruppe nennt sich nicht umsonst "Hafriyat", was so viel wie Baustelle und Ausgrabung bedeutet. Hafriyat versteht sich außerdem als Experimentierlabor, das etwas Neues entwirft und etwas aufbaut, dessen Endgestalt noch nicht abzusehen ist. Für einen Betrachter aus Mitteleuropa sind die Arbeiten der Gruppe nicht immer leicht zugänglich. Sich über Protagonisten einer nahezu unbekannten Kultur aber ad hoc zu äußern, birgt leicht die Gefahr des vorschnellen Urteilens, ja der Anmaßung in sich. Schnelle Wertungen sind in einen solchem Fall unangemessen. Das geringe Wissen über den fremden, kulturellen Kontext kann jedoch eventuell durch das Bemühen wett gemacht werden, zu einer verstärkten Kommunikation über die Werke und deren Intentionen beizutragen und dabei - was politisch gegenwärtig besonders relevant ist - zwischen orientaler und okzidentaler Kultur zu vermitteln.

Hafriyats Titel der Ausstellung in der Münchner Rathausgalerie, "Yalan Dünya", ist einer CD von Müslim Gürses entlehnt. Nicht zufällig wurde der Titel eines Albums mit Arabesk-Musik zitiert. Denn diese Musikrichtung zeichnet sich durch eine ähnliche Mischung aus globalen und lokalen Einflüssen aus, wie sie die Arbeiten von Hafriyat kennzeichnet. Was "Yalan Dünya" genau bedeutet, ist nach Aussage ihrer Mitglieder nur schwer zu übersetzen. Man könnte diesen Ausdruck mit "Die Welt ist eine Lüge" oder "Das Leben ist seltsam" umschreiben. Jedenfalls beschreibt er eine melancholische Stimmung, die auch als charakteristisch für diesen Musikstil gilt. Eventuell hat Arabesk für die türkische Bevölkerung eine ähnliche Bedeutung, ja Ventilfunktion. wie für Afroamerikaner der Blues. In beiden Fällen sind die Gesänge klagend und soulful. Auch die Protagonisten des Arabesk wirken weniger rebellierend als traurig-wütend oder resigniert-verwundert. Die Lieder drücken eine Ohnmacht gegenüber dem Geschehen aus, das um einen herum oder mit einem passiert. Vergleichbar dazu lenkt Hafriyat den Blick auf die Seltsamkeiten und Mysterien des täglichen Lebens, auf Widersprüche, die auf absehbare Zeit jedoch nicht gelöst werden können.

Der Besuch unserer kleinen Münchner Delegation, zu der neben mir auch Peter Pinnau vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München und die österreichische, in München lebende Künstlerin Uli Aigner gehörten, fiel in eine Zeit, in der die Diskussion über das Für und Wider des Beitritts der Türkei in die EU voll im Gange war. In Deutschland sind es mehr die Konservativen die eine Aufnahme ablehnen, in der Türkei ist es dagegen nicht zuletzt die Linke, die vor einer Umwandlung der Gesellschaft nach kapitalistischen Prinzipien durch einen Beitritt warnt. Immer wieder geht es dabei um die Frage: Kann die Türkei die EU-Normen erfüllen? Auch im kulturellen Bereich spielen solche Überlegungen eine Rolle. Entsprechend könnte man deshalb die Frage aufwerfen, ob die aktuelle Kunst der Türkei den westlichen Standards entspricht. Oder anders gestellt: Leben die türkischen Künstler hinter dem (Halb-)Mond? Aber gerade diese Frage bzw. Infragestellung sollte man außer acht lassen, wenn man sich der türkischen Kultur als einer weitgehend ignorierten Kultur annähert. Man muss die gewohnten Kriterien außer acht lassen, will man nicht an der Oberflä-che der eigenen Konventionen haften bleiben. Trotzdem kann man bei allem Bemühen die eigene Sozialisation nicht einfach ignorieren, genauso wenig wie sich türkische Künstler vollkommen gegenüber dem Einfluss der westlichen Kunst abschirmen können. Die Blick von außen bleibt fragmentarisch. Dessen sollte man sich bewusst sein.

Den ersten Fehler könnte man als Outsider wahrscheinlich schon dadurch begehen, indem man von einer türkischen oder Istanbuler Kunst spricht und dabei von einer kohärenten Kunstproduktion und -praxis ausgeht. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. In der 15 Millionen-Metropole mit einem jährlichen Wachstum von 300 000 Einwohnern arbeiten Künstler in den unterschiedlichsten Stilen und mit den verschiedensten Intentionen. Hafriyat kann demnach nur eine bestimmte Facette der vielfältigen Kunstproduktion dieser Stadt darstellen. Was allen Künstler Istanbuls jedoch gemeinsam zu sein scheint, ist, dass sie anders als in Deutschland nur mit wenig öffentlicher Un-terstützung rechnen können. Es sind deshalb in erster Linie die Galerien und die privaten Sponso-ren (die u.a. die international renommierte Institution Platform finanzieren), welche die Entwicklung der Kunst Istanbuls vorantreiben und den hiesigen Künstlern eine gewisse ökonomische und kommunikative Basis liefern. Während sich die vorherige Generation der Avantgarde darum bemühte, Anschluss an die internationale Szene zu finden, indem sie sich bestens informierte, in einem westlich akzeptierten Stil arbeitete und in vielen ausländischen Orten ausstellte, wollen sich jüngere Künstler wie die Mitglieder von Hafriyat wieder stärker mit den konkreten Lebensverhältnissen in der Türkei und der eigenen Geschichte auseinandersetzen. Dabei stellen sie die offiziell propagierte Unterscheidung zwischen E- und U-Kultur in Frage, nicht zuletzt, weil von staatlicher Seite in erster Linie eine an der internationale Moderne orientierte Kunst als die legitime betrachtet und entsprechend gefördert wird. Obwohl auch Hafriyat mit dem Geschehen der Art World bestens vertraut ist, plädiert sie für eine Kunstpraxis türkischer Prägung. "Unsere Arbeiten sind 100% Istanbul", sagte während des Istanbul-Aufenthalts bewusst provozierend ein Gruppenmitglied zu mir. Hafriyat will sich zwar nicht abschotten, aber Differenzen aufzeigen und die besondere Entwicklung und politische Situation der Türkei nicht verleugnen.

In der Dialektik von Globalität und Lokalität, also in der Auseinandersetzung von westlichen Inputs und eigener Tradition, neigt Hafriyat mehr zur Seite des Lokalen. Ihre Mitglieder interessieren sich für regionale Erscheinungen, die aber auch überregional von Bedeutung sind. Sie erzählen Geschichten des Alltags, die keinenfalls eine heile Welt darstellt: Murat Akagündüz zeigt z.B. auf einem seiner Gemälde korrupte Polizisten bei einer Verkehrskontrolle, Antonio Consentino Mafiaopfer, die gerade noch ihr Leben retten konnten, Mustafa Pancar Hooligans, die mit Schlagstöcken durch die Straßen Istanbuls ziehen. Vergleichbar mit den Intentionen von realistischer Kunst unterschiedlichster Couleur (Pop Art, Sozialisticher Realismus, Nouveau Realisme etc.) will auch Hafriyat Szenen des Gewöhnlichen darstellen. Den Künstlern gelingt dies in narrativen Bildern, ohne sich dabei auf eine bestimmte Ideologie festlegen zu wollen. Ihre Arbeiten beruhen auf alltäglichen Beobachtungen in ihrer nahen Umgebung und geben Situationen wieder, die aus unterschiedlichsten Gründen die Aufmerksamkeit der Künstler erregten. Der Schwerpunkt der künstlerischen Produktion von Hafriyat liegt in der Malerei, aber auch Skulptur und Video finden als Medium Verwendung. Die Besonderheit ihrer Gemälde liegt oftmals in der expliziten Buntheit und Vielteiligkeit des Bildaufbaus. Einerseits scheint die Farbe die Identifizierung der Objekte und Figuren zu unterstützen, andererseits besitzt sie Autonomie und scheint wie ein ornamentales Gewebe vor oder hinter dem Gegenständlichen zu schweben. Aber auch die Art, wie diese Künstlergruppe ihre Werke präsentiert, entspricht nicht immer den Konventionen der westlichen Kunstwelt. Bisweilen erinnern diese Ausstellungen in ihrer Vitalität und Üppigkeit an einen orientalischen Basar.

Das beschriebene Aufeinandertreffen von Regionalem und Globalem im urbanen Leben Istanbuls bildet häufig aber auch direkt das Thema ihrer Bilder. Die Konfrontation verschiedener Kulturen, die nicht zuletzt aus der massiven Binnenmigration resultiert, ist in dieser Metropole allerorts zu finden und wurde gleichsam unweigerlich zum Sujet der Künstler. Hakan Gürsoytrak hält in einer Werkserie die ausgelassene Stimmung in einer Diskothek fest, Murat Akagündüz widmet sich auf Gemälden in süßlichem Farbton den künstlichen Welten der Hotelkomplexe in den Tourismusregionen, Tan Cernal Genc und Nalan Yirtmac persiflieren in Animationsfilmen mit Spielzeugfiguren durch „dirty talk“ und spontanes Figurenspiel religiöse Dogmen und bigottes Verhalten. Irfan Önürmen produziert mit Bildern von TV-Beauties reliefartige Tafeln, und Mustafa Pancar stellt den Schwarzmarkthändler von Tonträgern, Raubkopien aktueller Musikveröffentlichungen, einer Bank als Vertreter der offiziellen Seite der Wirtschaft gegenüber. In anderen Arbeiten verleiht er der Begegnung von orientaler und okzidentaler Kultur eine humoristische Note - Bilder, die von der Landung von Aliens in Raumschiffen in Istanbul handeln. Wer mit diesen merkwürdigen Fremden gemeint ist, dürfte nicht schwer zu erraten sein. Dr. Justin Hoffmann Pressetext

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Yalan Dünya – Falsche Welt
Zeitgenössische Kunst aus Istanbul

mit Murat Akagündüz, CHARLIE , Antonio Cosentino, Extrastruggle, Tina Fischer, Tan Cemal Genc, Hakan Gürsoytrak, Caner Karavit, Irfan Önürmen, Eyüp Öz, Mustafa Pancar, Yavuz Tanyeli, Nalan Yirtmac, Serhat Köksal
Konzeption: Hafriyat Art Group