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Ausstellungseröffnung: Freitag, 29. Januar 2016, 18.30 Uhr, Museum Angewandte Kunst

Was wäre, wenn man in der Zeit vor oder zurück springen könnte, um zu erfahren, was an einem bestimmten Ort einmal war oder in ferner Zukunft sein wird? Wo verlaufen die Grenzen der Einheit von Zeit, Ort und Handlung und was haben Bilder, Objekte und Jahreszahlen, haben wir damit zu tun?

Vom 30. Januar bis 11. September 2016 greift das Museum Angewandte Kunst in Frankfurt in der Ausstellung ZeitRaum. Nach ‚Here’ von Richard McGuire elementare Fragen nach unserem Verhältnis zu Zeit und Raum auf. Es knüpft damit an die Graphic Novel Here des zu den berühmtesten Comic-Avantgardisten zählenden amerikanischen Illustrators Richard McGuire an, die auf faszinierende Weise mit der Auflösung der Einheit von Zeit, Ort und Handlung spielt.

Here von Richard McGuire

Die dreihundert Seiten starke Graphic Novel Here aus dem Jahr 2014 basiert – wie schon der gleichnamige sechsseitige Comicstrip von 1989, mit dem McGuire eine wahre Comicrevolution erschuf – auf einer genialen Bildarchitektur, die klug und effektiv die narrativen Möglichkeiten der Bilderzählung im Comic erweitert: Im immer gleichen Hier einer gewöhnlichen Wohnzimmerecke setzt McGuire zeitliche Einschübe ins jeweilige Jetzt. Innerhalb eines Bildes lässt er Bruchstücke der Vergangenheit einbrechen, Fragmente der Zukunft aufblitzen und entfaltet so wie im Zeitraffer die Geschichte ganzer Menschenleben. Von der Entstehung der Welt bis in eine ferne, unbekannte Zukunft ziehen epochale Momente der Welt- und Menschheitsgeschichte an diesem Ort vorüber und verbinden sich mit Szenen des alltäglichen Lebens: eine wechselhaft berührende und verstörende Perspektive auf den elementaren Lauf der Dinge, die den kleinen Momenten des Lebens eine beinahe zärtliche Aufmerksamkeit zollt, zugleich die Vergänglichkeit des menschlichen Daseins schonungslos offenlegt, um dabei unser Verhältnis zu Zeit und Raum grundlegend in Frage zu stellen.

McGuires Zimmer aus der Graphic Novel in der vierten Dimension

Im Zentrum der Ausstellung steht McGuires Zimmer, durch das die Besucherinnen und Besucher jeden Alters sich bewegen, die Szenerien aktiv verändern und selber zugleich zu Figuren der Erzählung Here als auch zu deren Erzähler werden können. So wie beim beliebigen Aufschlagen der Buchseiten in Here sich immer andere Verknüpfungen zwischen den im Werk verstreut angeordneten Bildern und Worten ergeben, eröffnet auch die Ausstellung einen Gestaltungsfreiraum, innerhalb dessen jede Besucherin und jeder Besucher im Prozess des aktiven Veränderns den Bildern und Objekten im Raum seine ganz persönliche Bedeutung geben kann.

Objekte aus den Sammlungen des Museums im ZeitRaum

In der Graphic Novel zeigt sich der Lauf der Zeit nicht nur im Kommen und Gehen der Generationen von Bewohnern, im Wechsel von Landschaften und Atmosphären, sondern auch im Entstehen und Vergehen des Zimmers selbst. Räumt Here mit grafischen Mitteln dem Umgestalten dieses Wohnraums durch wechselndes Mobiliar und Interieur über Epochen hinweg einen besonderen Stellenwert ein, so sind es in der Ausstellung historische Möbel, Objekte und Accessoires aus den Museumssammlungen mitsamt der in ihnen geronnenen Zeit, die das McGuire’sche Zimmer um einen Parcours von Szenen des Wohnens aus unterschiedlichsten Epochen ergänzen.

A9 paintings von Leanne Shapton und Shelter von Carl Burton

Zwei weitere künstlerische Positionen zielen in der Ausstellung auf je eigene Weise auf die Freilegung des Verhältnisses von Zeit, Raum und Bild: Carl Burton mit seinem traumbildnerischen Animationsfilm Shelter und Leanne Shapton mit ihrer Aquarell-Serie A9 paintings. Der Film Shelter, in der Ausstellung Teil der begehbaren Installation einer fantastischen „Zeitmaschine“, entwickelt aus einem unscheinbaren Dachboden in einer regnerischen Nacht eine epische Reise durch raum-zeitliche Landschaften, ohne dabei den geschützten Raum des Zimmers zu verlassen. Die A9 paintings hingegen entstanden als Logbuch einer Fahrt Shaptons von Frankfurt nach München und zeugen von der Auseinandersetzung mit einer fortwährend fliehenden Landschaft und Fremde. Als einzig verbindliche Struktur wurden die gezählten Kilometer der Strecke notiert, die nur schemenhaft erfassbaren Linien der Landschaften in einfachen, extrem reduzierten Aquarellskizzen festgehalten. Die Arbeit ist flüchtig durch Zeit und Raum, mit Zwischenräumen des Innehaltens, Träumens oder Sprechens im fahrenden Wagen.

Astrophysik, Wurmlöcher und Zeitreisen

Eine Annäherung an das Phänomen Zeit aus naturwissenschaftlicher Perspektive bietet in der Ausstellung der wissenschaftlich-didaktisch orientierte Film Journey into and through a Reissner-Nordström black hole aus dem Bereich der Astrophysik. Erweitert wird dieser Blickwinkel durch wissenschaftliche Vorträge im Begleitprogramm der Ausstellung, die sich auf einem allgemeinverständlichen Niveau faszinierenden Themen wie Wurmlöchern und Zeitreisen widmen.

Einblick in den Entstehungsprozess der Graphic Novel Here

Die Ausstellung bietet außerdem einen Einblick in den Entstehungsprozess der Graphic Novel. Als deren Ausgangspunkt wird zunächst die Urversion von Here, der schwarz-weiße Comicstrip aus dem Jahr 1989, mit Blick auf seine enorme Bedeutung für die Comic-Kunst, in wandfüllender Größe zu sehen sein. Eine weitere Wandfläche zeigt mit Collagen, Zeichnungen, digitalen Skizzen und Aquarellen Auszüge aus der Vorarbeit Richard McGuires für das farbige Comic-Buch. In einer Leseecke gibt eine Auswahl an besonderen Comic-Büchern von Zeichnern wie Chris Ware, Scott McCloud, Marc Antoine Mathieu, Marjane Satrapi und Craig Thompson einen kleinen Einblick in die Vielfalt und Qualität des Genres Graphic Novel und lädt zum Schmökern ein.

Interdisziplinäres Begleit- und Vortragsprogramm

In enger Zusammenarbeit mit Create, der Vermittlungsabteilung des Museum Angewandte Kunst, wurde zur Ausstellung ein sehr umfangreiches Begleitprogramm entwickelt, das eine Vielzahl an gestalterischen und theaterpädagogischen Formaten anbietet: von Szenen-Entwicklung, Bühnengestaltung und Theaterspiel bis hin zu Performances, Filmprojekten und Comic-Workshops. In den Osterferien gibt es eine ganze Theaterwoche für Kinder.

Ein interdisziplinär ausgerichtetes Vortragsprogramm für Kinder, Jugendliche und Erwachsene von 10 bis 100 Jahren befragt die Bedeutung der Zeit für unser Leben. Zu Wort kommen u.a. Gäste aus den Bereichen Astrophysik, Soziologie und Psychoanalyse, aber auch Publizisten sowie der Comic-Star Craig Thompson. Zur Halbzeit von ZeitRaum lädt das Museum zu einem großen Projekttag mit Vorträgen, Präsentationen und Workshops ein, zu dem auch Richard McGuire zu Gast sein wird.

Die Ausstellung wird unterstützt durch die freundliche Förderung des Amerikanischen Generalkonsulats Frankfurt, von Omled Leuchten und dem Dumont Verlag.

In der Ausstellung gezeigte Comics von Richard McGuire:
Richard McGuire, Here, New York, Pantheon, 2014
Richard McGuire, Hier, Köln, DuMont, 2015
Richard McGuire, Here, in: RAW, vol. 2, #1, 1989, herausgegeben von Art Spiegelmann und Françoise Mouly

Weitere künstlerische/wissenschaftliche Beiträge:
Carl Burton, Shelter, Animationsfilm, 2012
Leanne Shapton, A9 paintings, Aquarell-Serie, 2015
Prof. Andrew Hamilton, Journey into and through a Reissner-Nordström black hole, Modell/Visualisierung, 2010

Biografie Richard McGuire

Richard McGuire (* 1957 in New Jersey) war in den 1980er Jahren als Gründungsmitglied und Bassist der Wave-Punk-Band Liquid Liquid erfolgreich und mit dieser in verschiedener Hinsicht stilprägend. Weltweit bekannt ist die minimalistische Basslinie aus dem Song Cavern, die zum zentralen Motiv des Welthits White Lines von Grandmaster Flash wurde.

Mit der kleinen schwarz-weißen Bildgeschichte Here, die 1989 im RAW-Magazin von Art Spiegelman erschien, veränderte McGuire die Comicwelt und zählt in diesem Medium bis heute zu einem der einflussreichsten Künstler. Sein Gestaltungskonzept, das eine einfache und eingängige Motivik in einer hochabstrakten Bildarchitektur variiert und thematisch weit ausgreift, inspirierte die Comic-Kunst und -theorie gleichermaßen nachhaltig.

Seit Beginn der Neunzigerjahre erschienen McGuires Illustrationen u.a. in The New York Times, Le Monde, Libération, Mc Sweeney und als Titelblatt des Magazins The New Yorker. Mit der Cover-Gestaltung für das Album Slip In and Out of Phenomenon der Band Liquid Liquid ist er im Museum of Modern Art in New York vertreten.

Er hat Logos, Spiele und Spielzeug entworfen und mit großem Erfolg konzeptionelle Kinderbücher wie The Orange Book (1992), Night Becomes Day (1994), What Goes Around Comes Around (1995) und What's Wrong with This Book? (1997) veröffentlicht.

Zuletzt sorgte er mit seinem extrem reduzierten Animationsfilm Micro Loup (2003) und seinem Beitrag zum Filmprojekt Peur(s) du Noir/Fear(s) of the Dark (2007) für Aufsehen. Richard McGuire lebt in New York und Paris.

Direktor
Matthias Wagner K

Kurator
David Beikirch