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Steinskulpturen und Abguesse scheinen im Vergleich zu anderen Medien in der Gegenwartskunst seltsam “unzeitgemaess³. Die Arbeiten von Marcus Wittmers entstehen in einem aufwendigen und vor allem langwierigen Prozess intensiver Handarbeit. Der Gebrauch des Steines, die Bearbeitungsspuren, ueberhaupt das fuer den Betrachter spuerbare Gewicht und die Haerte des Materials rufen Pathosformeln der Kulturgeschichte auf, die Marcus Wittmers in seinem kuenstlerischen Umgang mit dem Medium Bildhauerei nutzt und gleichzeitig ’zeitgemaess¹ unterlaeuft.

Man kann diese Formeln mit Dauer, Ewigkeit, Tod usw. assoziieren Begriffe, die selten in der heutigen Alltagssprache gebraucht werden und praesent sind. Wie selbstverstaendlich entstehen sie bei “Waffenruhe³ (an dieser Serie arbeitet der Kuenstler seit dem Jahr 2000) durch die Nutzung von Grabsteinen, die gleichzeitig durch das fast hyperrealistische Abbild von Handfeuerwaffen, wie sie heute weltweit im Einsatz sind, gebrochen werden. Mit dieser klar vollzogenen Verschiebung des Kontextes, die Steine werden von Abfallbergen Berliner Friedhoefe geborgen und kuenstlerisch recycelt, gelingt dem Kuenstler, verschiedene Ebenen des intellektuellen Zugangs zu dem Kunstwerk zu eroeffnen:

Zum einen ist da die Ueberraschung der Komposition, denn irgendwie wirken diese Pistolen auf der rauen Oberflaeche des Steines nicht nur schoen, sondern ihr genaues Abbild ist auch ein virtuoses Kunststueck. Dafuer verwendet der Berliner Kuenstler Belgischen Granit, ein Material, das taeuschend echt die Farbe und Oberflaeche der Waffen wiedergibt. Zum anderen liegt in der Freude des ’Augenblicks¹ auch seine Schattenseite das Vergehen, der Tod, Endgueltigkeit. Grab und Pistole bergen diese unheimliche Dimension, die wiederum durch den Titel “Waffenruhe³ eine, fast moechte man sagen, physische und poetische Beruhigung, hoffnungsvolle Stilllegung erhalten: Ruhe Waffe sanft im Stein.

Darueber hinaus ist ein kultursoziologischer Zugang moeglich, indem man die Waffe (die immer einzigartige, individuelle Merkmale aufweist) dem Grabstein, als Zeichen fuer eine gelebte Existenz, eindeutig zuordnet. In den heutigen Fernsehserien wimmelt es von Agenten mit gezogener Handfeuerwaffe, von Entfuehrern und Bedrohten eine Kultur der Gewalt und der Angst. Man koennte dies als Simulation der heutigen Medien abtun, die taeglich um Aufmerksamkeit und Spannung kaempfen. Wirklich?

Mit dieser kuenstlerischen Strategie aus Verschiebung der Kontexte, der Nutzung der Restposten historischer Pathosformeln der Bildhauerei und ihrer heutigen Bruechigkeit bringt Marcus Wittmers Oberflaeche und Tiefe, aesthetischen Genuss und unterschiedliche Diskurse der heutigen Kultur - psychologische, philosophische, politische, soziologische - zum Schwingen und setzt die lange Tradition der Obelisken, der “sprechenden Steine³ fort, die als Zeichen das Hohe mit dem Tiefen verbinden.

In dieser Ausstellung ueberragt die Arbeit “Kicker³ den Betrachter, und ein ’Spielzeug¹ ueberwaeltigt. Doch was hier wuchtig erscheint, ist eigentlich ’federleicht¹! Die Vorlage stammt von einem Kickerspiel, wie es in den Spielhallen und Kneipen, spaeter den Jugendclubs, bis weit in die 1980er-Jahre eine enorme Verbreitung fand. Die hohe Zeit dieses Spielzeugs scheint mit dem Ende dieser sozialen Treffpunkte abzulaufen, wird es zunehmend zu einem Anachronismus in der gegenwaertigen, von elektronischen Medien dominierten Unterhaltungsindustrie. Jeder kennt dieses Spiel und in dieser Weise mischen sich in die Ueberraschung der schwebenden Figur (Wer soll hier, wozu ueberwaeltigt werden?) auch sehr individuelle Erinnerungen an die eigene Jugend, Feste, Spiele. Soziologische Deutungen koennen im Sinne der kuenstlerischen Konzeption von Marcus Wittmers (u.a. der Fußballer als Heldentyp der Gegenwart) erfolgen. Und schließlich verbindet “Waffenruhe³ und “Kicker³ ueberraschend das Thema der Gewalt und des Fingers am Abzug: Denn das Spielgeraet entstand urspruenglich als Uebungseinheit, um die Feinmotorik verletzter Soldaten zu verbessern.

Frank Eckart (Juli 2008)

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Zwischen Waffenruhe und Kickerspiel.
Neue Arbeiten von Marcus Wittmers