17. Aug 2007

Münster und die Skulptur Projekte
Exkurs documenta 12, 2007
Gedanken und Anmerkungen von Lothar Frangenberg

„Der nächste metaphorische Schritt ist, dass wir nicht nur immer schon eingeschifft und in See gestochen, sondern auch, als sei dies das Unvermeidliche, Schiffbrüchige sind.“ (S.22)

„Im strengen Sinne würde Umkehrung erst gegeben sein, wenn das Treiben des Hilflosen an seiner Planke im Meer die Ausgangssituation, also die Konstruktion eines Schiffes das aus dieser Lage erst hervorgehende Resultat der Selbstbehauptung wäre.“ (S.72)

(Aus: Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt a.M. 1979)

Anmerkung 1: Für die mögliche Verschiebung dieser Metaphorik steht der genannte Text nicht nur mit dem Titel ein: Wir sind weniger Schiffbrüchige als vielmehr zuschauende Touristen, die weitere Schiffbrüche phantasievoll und gespannt zu erwarten scheinen, ohne ihre Auswirkungen zu erahnen.



Anmerkung 2: Es handelt sich im Folgenden um eine Reihe lose verknüpfter Gedanken und Anmerkungen, die sich noch nicht anders ordnen lassen wollen.

Münster und die Skulptur Projekte:



Die Skulptur Projekte Münster 07 sind insgesamt gelungen.



Der kuratorische Überbau steht trotz der behaupteten Offenheit unter dem Diktum des 10-Jahres-Rhythmus und der damit postulierten Veränderungen des Stadtraums als Untersuchungsgegenstand künstlerischer Eingriffe.



Das aktuelle, übergeordnete Thema bezieht sich auf Branding, Stadtmarketing und die Konkurrenzsituation von Städten untereinander, kombiniert mit der Feststellung einer zunehmenden Vereinnahmung des öffentlichen Raums durch private Interessen. Hierauf sollten sich die künstlerischen Untersuchungen zum großen Teil fokussieren. Mit den ständigen Veränderungen des öffentlichen Raums hätten sich auch die Formen der künstlerischen Auseinandersetzung bis hin zu eher „immateriellen Kunstwerken“ gewandelt.



Diese thematischen Fixierungen im Überbau sind für mich befragenswerte und möglicherweise unnötige Elemente des Projektes. Ebenfalls läuft die Frage mit, ob der öffentliche Raum in der vor Ort angebotenen Form so noch als beispielhaft zu verhandeln ist? Er lässt sich nicht mehr nur im Äußeren verorten. Im Alltag, auch innerhalb der Privaträume, ist er längst virtuell angesiedelt und erschlossen; private und öffentliche Hemisphären sind miteinander verschränkt.



Viele begleitende Kommentierungen der Medien geben die Begrifflichkeiten und konzeptionellen Vorstellungen dieses Überbaus echoartig weiter und stellen sie in der Tendenz ohne weitere Reflektionen dar.



Ist wirklich festzustellen, dass Skulpturen seit 1977 den gesamten Stadtraum verändert haben, die beteiligte Öffentlichkeit darüber etwas Wesentliches erfährt bzw. lernt, und damit künstlerisch- skulpturale Eingriffe unter der fortwährenden Prämisse eines sich weitenden Skulpturbegriffes ein Mittel sind, Mängel im öffentlichen Raum zu beheben? Ist die Zeit der Monumente wirklich vorbei, und wird der Stadtraum auch durch neue performative Prozesse mit unerwarteten Handlungsmöglichkeiten aufgeladen?



Für die Skulptur Projekte in Münster mag dies durchaus in Teilen, wenn auch überwiegend temporär, zutreffen. Die Situation vor Ort ist eine spezielle, die die Wirkungsmöglichkeit künstlerischer Arbeiten im Außenraum begünstigt.



Münster hat bis heute wenig mit den weltweit unkontrolliert wachsenden, verstädterten Agglomeraten zu tun, in denen ab 2008 über die Hälfte der Weltbevölkerung leben wird, und die viele weitere Veränderungen entscheidend prägen. In Bezug auf dieses Geschehen kann die kleine, mitteleuropäische Stadt nicht repräsentativ sein. Münster ist ebenso wenig der insgesamt verwandelte Werbeträger. Es erscheint im Zentrum von Europa als prosperierende, kleine „Großstadt“, als erfolgreiches und unangefochtenes Zentrum einer zugehörigen Region. Mögliche Probleme – auch der Konkurrenz und der „Kannibalisierung“ – bilden sich nicht so deutlich ab wie anderswo.



Trotz aller Bewachungsmaßnahmen erscheint Münster als „white cube“ im Spektrum möglicher Stadtlandschaften – mit dem Vorteil, dass die künstlerischen Arbeiten deutlich und präziser hervortreten, Überlagerungen und Störungen des städtischen Alltags nicht so stark nach vorne drängen. Damit entsteht im Vergleich zu anderen Stadträumen eine Art „Laborsituation“, die in ihrer Überschaubarkeit und Beschaulichkeit freilich auch für einen verhaltenen Gesamteindruck sorgt.



Münster ist wieder – und das ist und bleibt eine wesentliche Qualität der Skulptur Projekte – als historisch gewachsener Stadtraum mit seinen Entwicklungen in Auseinandersetzung mit den Arbeiten deutlich erlebbar. Dies ist über die örtlichen Gegebenheiten hinaus auch deshalb nicht verwunderlich, weil viele künstlerische Arbeiten immer noch sehr konkret auf spezielle Stadträumlichkeiten oder historische Schichten bis hin zu Nachkriegsfolgen abheben. Fragen des Stadtmarketings und der zugehörigen Konkurrenz bzw. der Privatisierung des öffentlichen Raums treten als allgemeine Fragestellung dahinter zurück. Der Fokus des Betrachters liegt deutlich auf gelungenen Einzelarbeiten und ihrer Umgebung.



Die Künstlerauswahl der Kuratoren leistet ein Übriges. Als Prämisse galt, Künstler einzuladen, die erwartungsgemäß den mitteleuropäischen Kontext einbeziehen und spezifisch reagieren würden. Diese Ausschließlichkeit wirkt im Nachhinein verengend, in dem Sinne, dass wirklich Überraschendes weitgehend ausbleibt und das „Ortsspezifische“ als gleichsam traditionelle Fragestellung erscheint. Man belegt vielfach vertraute Positionen oder Statements. Wäre denn die Konfrontation mit einem international nomadisierenden „Künstlerexoten“ in der mitteleuropäischen, kleinen Stadt nicht spannend und sinnvoll gewesen? Beschleunigte Globalisierung steht doch einerseits für Gleichschaltung großen Stils, andererseits für Unvorhersehbarkeit, Unkontrollierbarkeit und überraschende Entwicklungen.



Gerade die Arbeit eines Künstlers wie Andreas Siekmann, der das Thema „Stadtmarketing“ direkt angeht, will vor der barocken Fassade des Erbdrostenhofs nicht gelingen. Schon die Positionierung seiner zwei Objekte analog zur Symmetrie der Fassadenwand erscheint eher als Referenz an die Schönheit der Architektur, denn als Konfrontation mit möglicherweise destruktiver Zuspitzung.



Zu Einzelarbeiten ausführlich Stellung zu beziehen, macht in diesem Rahmen keinen Sinn – hier dennoch einige kurze Eindrücke: Die Projekte sind qualitativ und in der Präzision ihres Auftritts zum Teil sehr unterschiedlich. Man hätte mehr Homogenität erwartet. Der Eingriff von Thomas Schütte z.B. funktioniert auf eine differenzierte und komplexe Art und Weise. Er thematisiert seine ältere Arbeit vor Ort erneut, indem er in einem rigiden Zugriff eine nachträglich entstandene, eher fragwürdige Brunnenskulptur einhaust und damit seiner neuen Skulptur „einverleibt“. Bruce Naumans „Square Depression“ erscheint vor Ort fast als zu klein. Der echoartig erklingende Gesang von Susan Philipsz unter der Brücke über den Aasee verschiebt den Betrachterfokus unaufwendig, aber deutlich – ganz direkt, ohne gestalterischen Aufwand, ohne optische Aufregung oder äußerliche, ästhetische (Un)Verbindlichkeiten. Einige Arbeiten in der Parklandschaft des Aasees dagegen wollen nicht wirklich interessant erscheinen, wirken redundant (R. Trockel) oder didaktisch (A. Wehrmann, G. Bijl). Dies mag auch an der Austauschbarkeit dieser Parksituation liegen, die in Bezug auf Münster eben nicht spezifisch ist.



Einerseits liefern die Skulptur Projekte die Behauptung des Wandels mit, andererseits fordern sie erneut die Reaktion auf das Ortsspezifische ein. Eine gewisse Widersprüchlichkeit scheint vorzuliegen. Es ist davon auszugehen, dass die Ausstellung vor Ort auch 2007 im alten Gewand trotz der Versuche einer Erprobung neuer gedanklicher Aufladungen weiterlebt. Münster steht eher für qualitätvolle Kontinuität (siehe Th. Schütte, G. Metzger, B. Nauman etc.) und weniger für Wandel. Das mag man, muss man aber nach der „Avantgarde“ nicht kritisch sehen wollen. Kunst ist in vielerlei Hinsicht keine Provokation (mehr) und sie muss es auch nicht notwendig sein. Die zum Schematismus verkommene, gedankliche Schleife, scheinbar Grenzen zu überschreiten, wenn man Alltagskontexte in die Domäne der Bildenden Kunst überführt, langweilt schon lange.



Vermittelt wird dem auswärtigen Besucher, als anspruchsvoller Tourist, als Teil eines interessierten Kunstpublikums, unterwegs zu sein. Gleichzeitig wird auch bewusst, dass Anwohner vor Ort als „Alltagspublikum“ die Kunstwerke über einen anderen Zugang erleben. Auch dies macht die spezielle Situation von Münster in ihrer Kontinuität aus. 



Man mag durchaus vermissen, dass der Avantgarde-Gedanke schon länger passé ist, auch im Sinne eines vermeintlich sinnvollen, gemeinsamen Fortschrittsprozesses. Er lieferte Kriterien und mögliche Entwicklungslinien, auf die man sich kritisch mit begründetem Urteil beziehen konnte, ohne auf scheinbar erfolgreiche „ästhetische“ Gesten hereinzufallen. Wenn es nun schon länger keine nachhaltig anwendbaren Kriterien mehr gibt, müsste man nicht auf Überbauten kuratorischer Art vorerst verzichten?



Welche Rolle Künstler letztlich dabei spielen werden, ist noch nicht absehbar. Sie müssen als Unternehmer und Marketingstrategen in einem schnellen und harten Marktgeschehens agieren, eben auch als kurzfristige Strategen wie wir alle. Inwieweit sie prädestiniert sind, noch weiterreichende Antworten zu geben, bleibt offen.



Die zunehmende Privatisierung des öffentlichen Raums hat auch mit seiner gleichzeitig wachsenden Unbehaustheit und Verwahrlosung zu tun, die in Münster in der Deutlichkeit nicht zum Tragen kommt. Funktioniert der „öffentliche Raum“ nicht nur noch, wenn er zunehmend „privatisiert“ und geschützt wird – das heißt, die Schaffung von Eingrenzungen, um ihn überhaupt auf Dauer zugänglich zu halten? Natürlich werden auch durch dieses Ausstellungsprojekt unter besonderen Interessen Orte in Anspruch genommen, geschützt und bewacht.



Eine umgekehrte Fragestellung wäre dringlicher gewesen: Nicht wie wird der Stadtraum durch Kunstwerke befragt und verändert, sondern in welchen Räumen, auch öffentlichen, funktionieren künstlerische Eingriffe sinnvollerweise noch? 
Die prinzipielle Annahme a priori, dass es so sei, gehört immer wieder auf den Prüfstand. Eine Einschätzung: Das Temporäre erscheint oft angemessener als das fest Installierte und Bleibende:


Exkurs documenta 12:



Warum dieser Exkurs? Weil in Kassel ein hybrider und inszenierter Marktplatz erscheint: der Aue-Pavillon, eine eingehauste „Agora“ als öffentlicher Raum und zentrierter Ort der Überlagerungen und Infragestellungen. Er ist das „Herzstück“ der documenta, das sich durchaus zu Münster, dem künstlerischen Eingriffen ausgesetzten Stadtraum, in Beziehung setzen lässt.



Während das Ausstellungsprojekt in Münster auch ohne Überbau nicht prinzipiell anders „gelesen“ würde – es stellt sich gelassen und selbstverständlich dar und funktioniert ohne diese Fragestellungen – sieht man sich auf der documenta genötigt, auch die kuratorischen Vorgaben zu benutzen, um ein eigenes Koordinatensystem zum Verständnis des Ausstellungskonzeptes zu entwickeln.



Der Pavillon gibt sich als Ausstellungsraum betont anti-museal: eine bewusst gesetzte Inszenierung mit häufig wechselnden Hell-Dunkel-Kontrastierungen als permanente Sinnesreizung. Das temporäre, bauliche Provisorium soll auf die Anfänge der documenta der Nachkriegszeit zurückverweisen und im Anspruch als Zäsur gelesen werden. Im architektonischen Ausdruck zeigt es sich als offener Verhandlungsraum ohne gezielte Verhaltenssteuerung und ohne Hierarchien, veränderbar und unterschiedlich bespielbar. Es verweist damit ebenfalls auf „demokratische“ und partizipatorische Architekturenvorstellungen der 1970er Jahre (z.B. Cedric Price, Frank van Klingeren).



Im Durchkonjugieren verschiedenster Ausstellungssituationen ergeben sich im Innern Zonen der Komprimierung, der Dehnung aber auch der Zerstreuung bis hin zur Leere. Es entstehen räumliche Sequenzen mit langsameren und schnelleren Bewegungsrhythmen, die an Schleuse, Straße, Sperre, Mauer oder Labyrinthisches erinnern. Im fast enzyklopädischen Zugriff dauernder Überlagerungen finden Konzentrationen auf Einzelarbeiten nur selten statt. Die Anordnung insgesamt erweist sich als sehr reflexiv. Permanente Bezüge, Verweise und Filter spiegeln das übergeordnete Konzept wider.



Es ist nun ein Leichtes, diese Konzeption und ihre Erscheinungsweise kritisch auszuhebeln – wie ja auch vielfach geschehen. Die doppelte Behauptung und Setzung „Pavillon plus Ausstellungskonzept“ erscheint selbstbewusst und trägt gleichzeitig die Möglichkeit des Scheiterns deutlich in sich.



Problematisch wird die Übernahme des Ausstellungskonzeptes für die weiteren, museal geprägteren Ausstellungsorte, deren Architekturen sich zu der des Pavillons konträr verhalten. Eine berechtigte Frage: Wäre der Pavillon nicht als ausgelagerter Ausstellungsort ausreichend gewesen – auch in noch größerer Ausdehnung? Hier lassen sich die bekannten kuratorischen Fragestellungen zur documenta hinreichend abarbeiten. Hier werden die Kunstwerke dem Konzept ausgesetzt bis ausgeliefert und teils dem kuratorischen Wollen untergeordnet.



Geradezu schwach erscheinen die Inszenierungen im Fridericianum und in Teilen der Documenta-Halle. Dort eine einfach arrangierte „Entwicklungsgeschichte der documenta“ zu präsentieren, erschiene angemessener. Der Ausflug zur Wilhelmshöhe dagegen erscheint schon in Hinsicht auf den Perspektivwechsel im Erleben des Stadtraums von Kassel sinnvoll.



Roger Buergel möchte ein anderes Weltbild als das „notorisch euro-amerikanische“ vorführen: Kunst als Medium der Welterkenntnis. Diese hoch gegriffene, auch anmaßend wirkende Absicht führt dennoch nicht an der Einsicht vorbei, dass auch diese documenta in der ersten Welt beheimatet ist. Inwieweit und in welcher Form man ihr Aufgaben zur aufklärenden Sichtung von Weltproblemen zuweisen kann, muss natürlich offen bleiben. Die Gefahr, künstlerische Arbeiten zu vielen überlagernden Anforderungen auszusetzen und sie damit auszulaugen, wird deutlich.



Auch Bildung bleibt in der uns zugänglichen Form ein westlicher Gedanke. Der immer enthaltene, utopische Aspekt ist nicht auflösbar. Man könnte meinen, der verbrauchte Avantgarde-Gedanke wird vermisst. Die Sehnsucht nach einem neuen Aufbruch wird spürbar, auch wenn in den begleitenden Magazinen Gedanken vorgetragen werden wie der, dass Kunstwerke heute als Zeichen erscheinen, „die aus ihrer eigenen Zukunft herausgefallen sind.“ Angedeutete Schlussfolgerungen in der Form, dass Kunst heute als politisch gelten kann, weil sie durch und durch ästhetisch ist, bleiben zu hinterfragen.



Zum Ende:



Der wichtige Documenta-Beitrag ist die Schaffung einer neuen, eigenen Örtlichkeit im Stadtraum, des Aue-Pavillons, und die Art seiner Bestückung. Es ist der Versuch eines suggestiven Miteinanders, der als Zäsur verstanden wird, und in dieser Form voller „Illusionen“ ist, ohne dies hier kritisch verstehen zu wollen. Die Documenta tritt als Veranstaltung der Behauptungen und Infragestellungen bis hin zur Relativierung und Auflösung auf. Die Skulptur Projekte in Münster dagegen erscheinen trotz der dargestellten Verschiebungen als erneute Vergewisserung und qualitätvolle Bestätigung von Positionen, auch als kontinuierliche, kuratorische Befragung der gewählten Aufgabenstellung.



Ausblickend: Stellen sich diese thematischen und inhaltlichen Vorgaben der Ausstellungskonzepte noch als zukunftsweisend dar oder reflektieren sie sich nicht nur unaufhörlich in den mit ihnen aufgestellten „Spiegeln“? Ist nicht die Stele von Mc Cracken im Eingang des Fridericianums – auf der Ebene einer hier bewusst forcierten Lesbarkeit – eine symptomatische Inszenierung dieser endlosen Bespiegelungen? Der heuristische Wert beider Ausstellungsprojekte ist unbestritten, die nachhaltige Wirkung der übergeordneten, „großen“ Fragestellungen steht auf dem Prüfstand.


Düsseldorf, August 2007

-skulptur projekte münster 07

-documenta 12 (2007)