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Franz Xaver Messerschmidt (1736–1783) zählt zu den eigenwilligsten Bildhauern der Kunstgeschichte. Das Liebieghaus widmet dem ungewöhnlichen österreichischen Künstler die erste Einzelausstellung in Deutschland. Messerschmidt wurde bereits als junger Bildhauer durch die Gunst der Kaiserin Maria Theresia mit zahlreichen Aufträgen bedacht. Sein heutiger Ruhm gründet jedoch vor allem auf den so genannten Charakterköpfen mit ihren grimassierenden, clownesken, schreienden, lachenden, starrenden Gesichtern, deren kraftvolle Ausstrahlung den Betrachter bis heute in Bann zieht. In der Ausstellung im Liebieghaus werden neben Porträtbüsten 20 Charakterköpfe zu sehen sein. Die Werke wurden von bedeutenden Museen und Privatsammlungen in Österreich, Ungarn, Frankreich, der Slowakei, den USA und Deutschland ausgeliehen. Die Ausstellung analysiert die Hintergründe von Messerschmidts Gestaltungsansatz: seine Intention, über das Mienenspiel die Bewegungen der Seele als der tiefsten Wahrheit des Menschen wiederzugeben, sowie seine Position im Zusammenspiel der akademischen Disziplinen Medizin, Theologie und Kunst im Europa des 18. Jahrhunderts. Bis heute haben sich zahlreiche Künstler von F. X. Messerschmidts Werken inspirieren lassen, unter ihnen Francis Bacon und Arnulf Rainer.

F. X. Messerschmidt wurde 1736 im schwäbischen Wiesensteig geboren. Nach dem Tod seines Vaters wurde er als Zehnjähriger zu seinem Onkel, dem etablierten Münchner Hofbildhauer Johannes Baptist Straub, in die Lehre geschickt. Über Graz gelangte er 1755 an die Kunstakademie in Wien, wo er zur Holzbildhauerei die Techniken der Metallplastik und der Steinbearbeitung hinzu erwarb. Von der österreichischen Kaiserin Maria Theresia geschätzt und für mehrere Aufträge engagiert, begann er für den Kaiserhof zu arbeiten und schuf Porträts und Statuen des Kaiserpaares und weiterer Mitglieder der Aristokratie. Anfangs noch dem barocken Pathos des Repräsentationsporträts verpflichtet, distanzierte sich der Künstler um 1765 mit den überlebensgroßen Porträtstatuen des Kaiserpaares von den tradierten, auf Autorität und Repräsentation zielenden Herrscherdarstellungen. Indem er die Kaiserin gleichermaßen jugendlich und majestätisch, lebhaft bewegt und selbstbewusst in sich verharrend zeigte, fand er zu einer neuen Form des höfischen Bildnisses. Kurz nach Beendigung der Statue der Kaiserin und eingebettet in seine ersten Erfolge reiste Messerschmidt 1765 für einige Monate nach Rom, wo er sich dem Antikenstudium widmete. Seine künstlerische Entwicklung in den späten 1760er und frühen 1770er Jahren nach der Rückkehr nach Wien wird vor allem in den Bildwerken gelehrter Zeitgenossen greifbar. Unter den bedeutenden Aufklärern und Wissenschaftlern, die sich von Messerschmidt porträtieren ließen, befand sich neben dem Arzt Franz Anton Mesmer (1734–1815) und dem Mediziner Gerard van Swieten (1700–1772) auch der Kunstschriftsteller Franz von Scheyb (1704–1777). In seiner Büste brach Messerschmidt erstmals konsequent mit der traditionellen Porträtformel und zeigte den perückenlosen Gelehrten jeglichen zeit- und statusbezogenen Beiwerks entledigt als selbstbewusstes Individuum frontal nach vorne blickend. Die Ausstellung unternimmt den Versuch, diese um 1770 geschaffenen Porträts mit den danach entstehenden Charakterköpfen zu verbinden. Eine 2004 neu aufgefundene und Messerschmidt zugeschriebene Büste des Fürsten Joseph Wenzel I. von Liechtenstein stellt dabei das bisher fehlende Bindeglied und eine Art Prototyp der Charakterköpfe dar. Indem Messerschmidt den nackten Brustausschnitt des Dargestellten auf die Sockelunterkante hinunterzieht und den Sockel links und rechts nur wenig hervorblicken lässt, erzielt er jene Unmittelbarkeit, die den Charakterköpfen eigen ist.

Für die Neuformulierung der Porträtbüste erfuhr Messerschmidt in den aufgeklärten Kreisen Wiens höchste Zustimmung und wurde 1769 von dem Hofmaler Martin van Meytens zum Substitutsprofessor für Skulptur ernannt. Gleichzeitig wurde ihm die nächste freiwerdende Professorenstelle in Aussicht gestellt. Dennoch erhielt er in den folgenden Jahren keine Berufung als Professor. Die Gründe für die gescheiterte akademische Laufbahn scheinen, den Schriftstücken des Staatskanzlers Kaunitz von 1774 nach zu urteilen, in einer Erkrankung des Künstlers – „seiner zweydeutigen Gesundheit“, „einer Verwürrung im Kopfe“ – zu liegen. Ob es jedoch tatsächlich eine schwerwiegende psychische Krankheit war, die Messerschmidt zeitweise arbeitsunfähig machte, ist bis heute nicht nachgewiesen. Es wäre auch durchaus denkbar, dass seine zeitweise angegriffene Gesundheit als Mittel diente, den nonkonformen Künstler zu pathologisieren und auszuschließen. Gleichzeitig entstand ein Auftragsvakuum, das auch dadurch bedingt war, dass die wichtigsten Förderer und Auftraggeber zwischen 1770 und 1772 starben. Messerschmidt verließ Wien und zog nach einer gescheiterten Bewerbung um die Münchner Hofbildhauerstelle schließlich 1777 nach Pressburg, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1783 fast ausschließlich an den „Köpfen“ oder „Köpf-Stückhen“, wie er sie nannte, arbeitete. Sie entstanden ohne Auftrag und teilweise nach dem eigenen Spiegelbild des Künstlers, anhand dessen er die Ausdrucksmöglichkeiten des Gesichts studierte. Der Name „Charakterköpfe“ sowie deren größtenteils abstruse Bezeichnungen gehen auf die „Merkwürdige Lebensgeschichte des F. X. Messerschmidt“ – eine postum erschienene anekdotisch ausgeschmückte Biografie eines anonymen Verfassers – zurück. Nach mehreren ausschließlich der Belustigung dienenden Präsentationen der Köpfe u. a. im Wiener Prater wurden sie erst in der Zeit des Expressionismus als Kunstwerke anerkannt und in Museen aufgenommen.

Mit dieser Serie von Köpfen mit teils bizarr grimassierenden Gesichtszügen, die menschliche Emotionen wie Angst, Ekel, Ärger, Freude, Schmerz oder Trauer zum Ausdruck bringen, radikalisierte Messerschmidt die Gattung der Bildnisbüste und brach gegen Ende seiner künstlerischen Schaffenszeit endgültig mit der traditionellen Darstellungsweise. Die physiognomische Suche nach Gefühlen und einem durchschaubaren Inneren wird jedoch durch ihre scheinbar willkürliche Kombinatorik unterschiedlicher Ausdrucksformen ad absurdum geführt. Bewegungen der Gesichtmuskeln sind einzeln zwar realistisch wiedergegeben, in der Realität aber oft nicht gleichzeitig durchführbar, die Affekte häufig übertrieben. Die Köpfe sind – entgegen jeglicher Wirklichkeitserfahrung – symmetrisch aufgebaut, die Ausdrucksformen und Kopfbewegungen markierenden Falten und Muskeln stilisiert, und auch Haare und Augenbrauen sind nicht realistisch gestaltet, sondern folgen einem ornamentalen oder zeichnerischen Prinzip. Der Wirklichkeitsbezug ging Messerschmidt dabei verloren, aber die Ausdrucksfähigkeit seiner Kunst stieg beträchtlich.

Messerschmidts Kunst weist zwar weit über seine Zeit hinaus, dennoch stand er mit seinem Interesse am Menschenbild und vor allem an den Empfindungen des Menschen im Zeichen der Aufklärung und ließ sich von zeitgenössischen Diskussionen anregen. Die Frage nach der Beschaffenheit der Seele, das Mienenspiel als Ausdruck der Gefühle sowie medizinische und psychologische Erklärungen beschäftigten Naturwissenschaftler und Theologen ebenso wie Künstler. Den modernen Auffassungen folgend forderte der Kunsttheoretiker Franz von Scheyb, dass die Leidenschaften der Seele auch die Hauptgegenstände der Kunst sein sollten. Aber nicht nur wissenschaftsorientierte Theorien entstanden im Zuge der Erforschung der Gefühle. Zunehmend waren es Mediziner, die sich praxisorientiert mit der Frage nach der Strukturierung der Leidenschaften und ihrer korrekten anatomischen Wiedergabe beschäftigten. Der Arzt James Parsons war einer der ersten, der sich hauptsächlich mit den Mechanismen der Gesichtsmuskeln und ihrer Abhängigkeit von Gemütszuständen befasste und damit unterschiedliche Gefühle zu differenzieren versuchte. Persönlichen Kontakt pflegte Messerschmidt mit dem Arzt Franz Anton Mesmer, der eine eigene Heilmethode – den animalischen Magnetismus, heute als Mesmerismus bezeichnet – erfunden hatte. Mesmer ging davon aus, dass der Kosmos, die Natur und die Menschen über ein universelles Fluidum miteinander verbunden seien und Krankheit durch eine Störung dieses Fluidums entstehe. Um das uneingeschränkte Fließen wieder zu aktivieren, arbeitete Mesmer mit Magneten, die er mit den Patienten verband. Mehrere Charakterköpfe wie Ein mit Verstopfung Behafteter oder Innerlich verschlossener Gram könnten Reflexe auf Mesmers Methode darstellen.

Neben den möglichen Anknüpfungspunkten zu zeitgenössischen Theorien sind historische Bezüge der Charakterköpfe zu antiken und nachantiken Bildnissen sichtbar. Es ist anzunehmen, dass sich Messerschmidt vor allem während seiner Italienreise Anregungen für seine Porträts und Köpfe holte. Sowohl der Melancholikus mit Kopfbinde als auch der Mürrische alte Soldat zitieren Motive der antiken Herrscherikonografie, gemahnen an ptolemäische und römische Porträtköpfe. Eine besondere Rolle innerhalb der antiken Kunst spielte für Messerschmidt offensichtlich die ägyptische Kunst. So ist Ein schmerzhaft stark Verwundeter nur mit der Kenntnis dieser zu erklären.

Messerschmidt rezipierte antike Vorgänger und zeitgenössische Theorien und Diskussionen nie ungebrochen, sondern nutzte sie, um seinen eigenen unverwechselbaren Kosmos menschlicher Zustände und Ausdrücke zu schaffen. Trotz aller möglichen Interpretationen einzelner Köpfe oder Reihen konnte das Rätsel um die Charakterköpfe in ihrer Gesamtheit selbst in der neuesten Forschungsliteratur noch nicht enthüllt werden. Die Köpfe des Franz Xaver Messerschmidt offenbaren die große Meisterschaft des Künstlers und sind auch für den zeitgenössischen Betrachter noch irritierend, mehrdeutig, phantastisch.

Messerschmidt in Frankfurt

Für die Sammlung des Liebieghauses wurde 1988 ein bedeutendes Werk Franz Xaver Messerschmidts erworben, die Büste eines bärtigen alten Mannes, die Erinnerungen an das Bildnis des Philosophen Sokrates hervorruft. Seither gilt einer der Forschungsschwerpunkte des Liebieghauses dem Werk Messerschmidts. Unter anderem aus der Beschäftigung mit dieser Büste erwuchs elf Jahre später im Städel Museum aus Anlass des Goethe-Jahres die Ausstellung „Mehr Licht. Europa um 1770 – Die bildende Kunst der Aufklärung“.

Das erste Werk Messerschmidts hatte Frankfurt allerdings bereits 200 Jahre zuvor erreicht: Das Grabmal des aus Frankfurt gebürtigen Wiener Reichhofsrates Heinrich Christian von Senckenberg wurde 1768 von Messerschmidt fertig gestellt und stand zunächst im evangelischen Teil des kaiserlichen Friedhofs in Wien. Es zeigte ein von zwei Puttengenien getragenes, rund 65 cm im Durchmesser rundes Reliefmedaillon mit dem Bildnis des Verstorbenen, das auf einem hohen Sockel mit einer Inschriftentafel und dem Senckenberg-Wappen ruhte. Im Jahr 1799 wurde es von Senckenbergs Sohn Renatus von Wien nach Frankfurt gebracht. Hier sollte es neben dem Grab seines Onkels, dem großen Stifter Johann Senckenberg, im Botanischen Garten aufgestellt werden, wogegen sich jedoch der Stiftungsrat sperrte. Nach mehrfachen Standortwechseln erhielt die Grabinschrift 1958 ihren endgültigen Platz im Innenhof des zur Dr. Senckenbergischen-Stiftung gehörenden Bürgerhospitals in der Nibelungenallee, in dem sie sich noch heute befindet. Waren die dazugehörigen Puttengenien bereits in Wien verloren gegangen, so ist das Bildnis des Wiener Rechtsgelehrten, das Messerschmidt angeblich nach einer schlechten Miniatur schuf, seit seinem letzten Umzug 1958 verschollen.

Kuratorin: Dr. Maraike Bückling Katalog: „Die phantastischen Köpfe des Franz Xaver Messerschmidt“, Hirmer Verlag, 336 Seiten, 193 Abbildungen, 29,90 Euro, Vorwort von Max Hollein, Beiträge von Heike Höcherl und Maraike Bückling, Essays von Frank Matthias Kammel, Thomas Kirchner, Axel Christoph Gampp und Ulrich Pfarr

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Die phantastischen Köpfe des Franz Xaver Messerschmidt
Kuratorin: Maraike Bückling
Liebieghaus Skulpturensammlung