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In Memoriam PETER WEIBEL [1944–2023]

TONSPUR Kunstverein Wien trauert um seinen Künstler und Unterstützer Peter Weibel, der am 01. März 2023 in Karlsruhe verstorben ist.

In Gedenken an Peter Weibel installieren wir am Sonntag, den 05. März 2023 – seinem 79. Geburtstag – seine TONSPUR für einen öffentlichen raum aus dem Jahr 2011 für einen Tag von 00:00–24:00 Uhr in der TONSPUR_passage | Micro Museum for Sound im Museumsquartier Wien.

Peter Weibels TONSPUR 42 trägt den Titel Das Leben im 20. Jahrhundert: 225 Millionen Morde. Ein Oratorium.

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TONSPUR 42 • PETER WEIBEL • LIFE IN THE 20TH CENTURY…
Das Leben im 20. Jahrhundert: 225 Millionen Morde. Ein Oratorium

Eine männliche und weibliche Stimme zitieren Jahr für Jahr, von 1900 bis 2000, die Zahl der politischen Morde, den Ort der Morde und den offiziellen Titel. Würden die 225 Millionen Toten Name für Name gesprochen und jeder Name würde eine Minute lang ausgesprochen, so würde es ca. 430 Jahre dauern, all die Namen der politisch Ermordeten im 20. Jahrhundert aufzuzählen.
In diesem Oratorium werden keine Namen genannt. Es handelt sich also um ein akustisches Monument für die Namenlosen. Denn die Opfer haben keine Namen. Nur die Sieger haben Namen, und Denkmäler. Ermordete sterben zweimal, real und symbolisch. Politisch Ermordete sterben unendlich oft, ewig, denn für sie gibt es keine Gerechtigkeit – auch nicht am Ende aller Tage. Die politisch Ermordeten existieren nur als Zahlen auf einer Liste und diese Liste interessiert niemanden. Nicht nur das Lager, auch die Liste, ist das Symptom des 20. Jahrhunderts. „Vivere no, muerte si“ – steht auf allen faschistischen Denkmälern. Das 20. Jahrhundert liebte das Leben nicht, denn es war das Jahrhundert der totalitären Systeme, die heute noch bis in den Alltag hinein regieren. 225 Millionen Tote, sinnlos aus politischen Gründen ermordet, sind das Ergebnis, eine unsichtbare Nation beinahe so groß wie Amerika. Um die Toten von hundert Jahren Name für Name aufzusagen, braucht es Jahrhunderte. Den Tod zu zählen dauert länger als der Tod. Deshalb ist der Tod unbesiegbar. Die Kultur, das Erinnern, das Archiv, der Speicher, die Schrift, die Medien sind die einzigen, wenn auch armseligen, ärmlich seligmachenden Versuche, den Triumph des Todes zu schmälern und zu relativieren. Die Unendlichkeit des Todes in wenigen Minuten zu erzählen, indem ich die Todesziffern zähle, ist die List der Kunst, dem Tod seine Totalität zu nehmen.

Peter Weibel, 2011