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Interview mit Olivier Bardin anlässlich der Ausstellung "Die Ausstellung? Sie sind die Ausstellung." im Kunstverein Nürnberg - Albrecht Dürer Gesellschaft - vom 12.03.08 bis zum 30.03.08

Das E-Mail-Interview fand im April 2008 statt.
Die Fragen stellte Lothar Frangenberg für kunstaspekte.
Übersetzung aus dem Englischen: Anna Chudaska.

kunstaspekte: Sie weisen in Ihrer Nürnberger Ausstellung dem Publikum die Aufgabe zu, sich intensiv damit zu beschäftigen, wie der Einzelne im Gegenüber mit dem anderen in wechselnden Positionen als Ausstellungsobjekt und gleichzeitig als betrachtendes Subjekt erscheint. Sie thematisieren die komplexen Überlagerungen/Mischungen realer und symbolischer Handlungen im Kontext von Ausstellungen, indem Sie das Publikum mit einem variablen Rollenspiel beauftragen.

Beobachten Sie Unterschiede in der Reaktion des Publikums oder handelt es sich um jeweils ähnliche Reaktionen und Verhaltensmuster?

Bardin: Die "Regeln" sind von Ausstellung zu Ausstellung fast immer die gleichen; ich lege sie fest, um die Spannung zu schaffen, die notwendig ist, vom eigenen Blick Gebrauch zu machen. Die folgenden Elemente sind für die Ausstellung wesentlich:
 1. Der Ort.
 2. Das Publikum.
 3. Meine Anwesenheit oder die meines Beauftragten. 
4. Eine einleitende, in Landessprache geäußerte Anweisung von mir oder meinem Beauftragten. Bei dieser Anweisung geht es um den Wunsch nach Selbstdarstellung. Und sie mag je nach Situation variieren.
 5. Eine Zeitangabe für jeden Zuschauer.
 6. Eventuell: Ton- und Bildaufnahmegeräte.

Die einleitende Anweisung zur Ausstellung wendet sich an alle; es wird angekündigt, dass man sich in einem Ausstellungsraum befindet, und dass etwas ausgestellt werden muss, damit eine Ausstellung stattfinden kann. Als Nächstes frage ich, ob irgendwer bereit ist, sich selber auszustellen. Wenn sich jemand einverstanden erklärt, beginnt die Ausstellung. Es ist enorm wichtig, dass einer als Teil der Ausstellung einführend "spricht"; und ich kann mir nicht vorstellen, beispielsweise eine Vorschrift an die Wand zu schreiben. Man muss sich vor Augen halten, es ist möglich, mit der Person, die die einleitende Ansage macht, zu diskutieren, sie in die Ausstellung einzubeziehen oder nicht, jedenfalls Haltung dabei zu beziehen.


Von diesen feststehenden Elementen ausgehend ändert die Wahl des Ortes und des Publikums die Ausstellung in Hinsicht auf viele Aspekte. Schließlich geht es um kulturelle Zustände. Natürlich sind manche Reaktionen in jeder Ausstellung die gleichen: Betrachter beginnen meist damit, den sich Ausstellenden als Objekt anzuschauen, er/sie verhält sich manchmal ruhig; einige Zuschauer fühlen dann das Bedürfnis, ihn/sie zu berühren. Im Weiteren nehmen alle eine gewisse Distanz ein, indem sie denjenigen, der sich zur Schau stellt, umkreisen: Nach und nach wird den Besuchern bewusst, sie haben es mit einer Person zu tun, einem lebendigen Subjekt, das sie ebenso betrachtet, und keinem Objekt, so dass sie durch ihr Hinschauen herausgehoben werden. Wenn die Zuschauer begreifen, sie werden selber ausgestellt, sie schauen sich gegenseitig an, ergreifen einige von ihnen die Initiative, so als ob sie noch mehr beäugt werden wollen. Ab dann gewinnt die Ausstellung eine einzigartige und unerwartete Form; demzufolge unterscheidet sich jede Ausstellung von den anderen.

_kunstaspekte: Spielt das Publikum dabei "Publikum", lebt die eigene "Inszenierung" und simuliert sich selber oder gehen Sie von einer authentischen Reaktion der beteiligten Akteure aus?__

Bardin: Zunächst kommen sie als Publikum, das eine Ausstellung in einer kulturellen Einrichtung besucht, danach werden sie aufmerksamer und aktiver. Über die Situation, die ich vorgebe, ist der Museumsraum ein Anlass, das Hinschauen zu üben.
Jedenfalls reagieren wir nie authentisch und damit spiele ich: Ich denke, dass wir generell Rollen spielen. Man legt sich seine Rolle zu und passt sie den Umständen an. Wenn man sich in einer neuen Situation befindet, muss man sich eine neue Rolle aneignen und braucht Zeit dafür sich vorzustellen, welche Art von Rolle man spielen möchte. Zeitlich gesehen ist das nicht gefüllt: Es besteht ein "leerer" Zeitraum, in dem man sich damit zu beschäftigen hat, was man im Allgemeinen darstellt und der neuen Maske, die man gerade für den aktuellen Kontext ersinnt. Im Verlauf der Ausstellung bringe ich ein, jeder befindet sich in dieser Situation und versucht, unter den Augen der anderen etwas Neues zu schaffen. Weil doch jeder auf die neue Maske des anderen wartet, und alle herausfinden wollen, welche Vorstellungen man in diesem ungewohnten Zusammenhang entwickeln kann. Alle schenken sich Aufmerksamkeit und Achtung, da sie jeweils von den anderen angeschaut werden.
Ein Beispiel: Einmal kam ein Algerier in die Ausstellung, die ich in Frankreich im Centre International d’Art du paysage de Vassivière machte. Er war sehr überrascht, als er mitbekam, dass die Art und Weise, in der er die Leute um sich herum in der Ausstellung anschaute, damit übereinstimmte, wie er auf der Strasse angeguckt wurde, als er in Frankreich eintraf. Ein ziemlich heftiges Anstarren. Doch im Verlauf der Ausstellung, als alle sich gleichermaßen betrachteten, konnte schließlich ein Gleichgewicht voller Respekt füreinander gefunden werden. 

kunstaspekte: Ziehen Sie sich in diesem Konzept als Künstler vorwiegend in die Rolle des Beobachters zurück? Verschiebt sich die Rolle des Künstlers?

Bardin: Ich glaube, die wesentliche Rolle des Künstlers besteht darin, etwas zu imaginieren, das dem Publikum beim Sehen hilft, da wir Zeit benötigen, um uns herum Ablaufendes aufzunehmen. Bei meinem Projekt nimmt das Publikum nicht genau wahr, was sich am Anfang ereignet; Schritt für Schritt findet es heraus, derjenige, der sich ausstellt, stellt ein komplexes Subjekt dar, versucht, etwas in Beziehung zu den anderen aufzubauen. In meinem Fall besteht die Rolle des Künstlers darin, sich einen "Apparat" auszudenken, der gewissermaßen für die Erfahrung, die sich einstellen soll, einen Rahmen festlegt. Dieser Apparat muss eingerichtet werden: Er ist durch die Wahl des Ortes, eine klar umrissene Zeitdauer, eine Anweisung und die Berücksichtigung der anwesenden Zuschauer bestimmt. Dagegen ist meine Gegenwart nicht wesentlich: Ich kann zur Ausstellung kommen, aber Tatsache ist, dass mich auch jemand anderes vertreten kann, um die Ausstellung zu organisieren. Der wichtige Punkt in Bezug auf den Ort besteht nicht in seinem Vorhandensein als Kunstinstitution, sondern als Raum, der für Ausstellungen bestimmt ist, an dem das eigene Zurschaustellen stattfinden könnte. Solch ein Ort legt das Verhalten der Besucher fest, gibt vor, was sie zu sehen erwarten: Jeder ist gewappnet und benimmt sich verhaltensgemäß bis seine eigene Gegenwart zur Disposition steht. Deshalb muss der Ort über eine festgelegte und sofort erkennbare Funktion verfügen. Und tatsächlich verknüpfen die Zuschauer, die ich einlade, geradewegs, was es zu sehen gibt, mit ihrer bisherigen Erfahrung als Ausstellungsbesucher.

kunstaspekte: Haben Sie als Künstler eine Erwartungshaltung an das beteiligte und betrachtende Publikum?

Bardin: Man kann im Verlauf der Ausstellung beobachten, dass sich etwas verändert. Manchmal erläutern Leute aus dem Publikum, wie die Ausstellung abläuft. Ich dagegen schätze Stille sehr. Ich glaube, es ist wirklich besser, ruhig zu bleiben, konzentriert zu sein, während man sich umschaut. Man muss nicht reden, wenn man ein Bild betrachtet, allerdings kann es später notwendig sein, um sich zu erinnern, was man gesehen hat.
Die Erfahrung erfolgt mit der Zeit: einer sehr ausgelasteten Zeit. Jeder erfüllt zwei Rollen mit einer gewissen Gespanntheit, die des Schauenden und die des Angeschauten. Die eigenartige Atmosphäre der Ausstellung hält manchmal davon ab, genau zu erkennen, was den Auftritt einer Person ausmacht; überdies möchte man sich nicht wirklich dabei zusehen, sein richtiges Selbstbild für diesen neuen Kontext zu finden. Also mache ich Fotos als Beweisstücke: Die Fotografie ergänzt die Erfahrung, sie ist kein Nebenprodukt. Das Bild zeigt einen Moment der Spannung, die Ausdruckskraft eines Blicks, die Distanz zwischen Menschen, die Art und Weise, wie das Hinschauen angewendet wird usw., und hilft begreifen, was stattfindet.
In meinen Ausstellungen machen viele Leute mit ihren Handys und vielen anderen Gerätschaften Bilder, und dies ist tatsächlich eine häufige Art des Hinschauens; übrigens im Allgemeinen würden sie niemals Fotos von etwas machen, was sie selber darstellen. Sie finden etwas außergewöhnlich, wo ihnen normalerweise nichts aufgefallen wäre. Die Fotografie ist die natürliche Erweiterung des eigenen Selbstbildes. Das läuft alles kreisförmig ab: von der Selbstwahrnehmung zur Streuung dieser Vorstellung sogar bis hin zu ihrer wirtschaftlichen Verwertung.

kunstaspekte: Sehen Sie diese Entwicklung als einen rational geprägten Akt oder eher als intuitiv ablaufendes Geschehen? Wie weit geht Ihre Kontrolle und Regie über das zugrunde liegende Konzept hinaus? Wann greifen Sie in den Ablauf ein?

Bardin: Als ich mit dieser Art von Projekten vor einem Jahr begann, fing ich nach zehn Minuten an, Dinge zu sagen wie: "Schau mal! Diese Person ist lebendig", "Diese Person ist wie du…sieht dich auch…" usw. Aber ich musste einsehen, dass die Ausstellung allmählich eine Gestalt annahm, die den Beziehungen zwischen den Zuschauern, ihren Blicken und dem Zeitablauf zu verdanken ist…und ich griff immer weniger ein. Hin und wieder fängt eine Diskussion an, einige Leute sprechen mich an und fragen, ob sie sich zur Schau stellen können, nur sind sie natürlich, getreu meinen einführenden Anweisungen zur Ausstellung, sowieso Teil der Schau.

kunstaspekte: Verändern Sie Ihr Konzept je nach Publikumsverhalten und -reaktionen?

Bardin: Zunächst gibt es eine ziemlich zufällige Gruppe von Zuschauern, die sich gegenseitig beobachtend verteilt, um am Ende eine Gemeinschaft zu bilden, in der Personen versammelt sind, die sich nicht kennen, aber dennoch auf eine übereinstimmende Erfahrung zugreifen, bei der die Selbstwahrnehmung auf dem Spiel steht.
Diese "Gesellschaft" nimmt allmählich Form an, und ist das von mir ruhig aufgebaute Werk. Ich schaue sehr gerne zu, wie dieses Image auftaucht – das Abbild des Ganzen und das Persönlichkeitsbild jeder Person. Es ist für mich auch nicht nötig, in den Prozess einzugreifen. Ich bin immer erstaunt über das Erscheinen dieses Images und ich könnte seine Gestalt nicht im Voraus festlegen.

kunstaspekte: Wie spiegeln sie sich als Künstler im Verhalten der Besucher wieder?

Bardin: Reflektieren.
Spiegeln.
Ich sehe mich in den anderen.

kunstaspekte: Gibt es für Sie dabei einen Erkenntnisgewinn oder geht nur um das Vorführen des auf eine Grundstruktur zurückgeführten Ausstellungsbetriebs?

Bardin: Das Ausstellen ist ein Medium. Es geht um den Punkt, es auf seine grundlegenden Komponenten zurückzuführen, in zurückgenommener Form als reduziertes Hilfsmittel davon Gebrauch zu machen. Ich gehe an unbelebte Orte, etwa wie in eine Kulisse. Der Apparat beinhaltet dieses Set, das heißt, einen quasi verlassenen Ort, an dem das Vorstellungsbild erzeugt wird.
Ich begreife die Ausstellung als eine Gelegenheit, solch ein Image zum Erscheinen zu bringen. Alles hierzu könnte sich dort in dieser Zeit ereignen. Es ist die letzte Ausstellung (die des Zuschauers) und die erste zur gleichen Zeit; danach zeigen die Bilder, die ich von den Leuten mache, wie dieses Abbild auftaucht. Jede Fotografie zeigt eine Sekunde der Ausstellung. Jedoch haben wir es nicht wirklich nötig, Aufnahmen zu machen, um Bilder zu erzeugen. Ein Raum, ein präziser Zeitablauf, eine kleine Personengruppe, die sich ruhig verhält, können genug sein.
Nur schätze ich es, über viele Bilder einer Ausstellung als Spiegel zu verfügen. All diese Bilder zeigen Leute die, sich nahezu gleich verhaltend, als Teilnehmer eine einheitliche Gemeinschaft bilden.

http://www.kunstaspekte.de/olivier-bardin/
Informationsseite Olivier Bardin