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Es gibt zwei Dinge, die mich besonders interessieren. Das eine sind Bücher, das zweite ist das Gehen in der Landschaft. Ein großes Buch zu machen, raumfüllend, war schon immer ein Wunsch von mir. Für meine Liebe zur Sprache und die ergiebige Quelle Literatur, stehen in dieser Ausstellung zwei Bücher. Friedrich Dürrenmatts Erzählung „Winterkrieg in Tibet“, in dem ich mich ihm geistig verbunden fühle, und das Buch „Ich und die Anderen“ (engl. „Set this house in order“) von Matt Ruff. In diesem Buch geht es um eine multiple Persönlichkeit und ihr erstaunliches System mit dieser Krankheit innerhalb der Gesellschaft zu leben. Auch hier finde ich vieles von mir wieder. Meine Tiere stehen für meine Beziehungen zu den Anderen und zugleich sind sie die Visualisierung der Seelen, die in mir leben oder gelebt haben. Deshalb sind manche erwachsen und manche Kind. Das Format des Rollbildes lernte ich in Nepal kennen, es wird dort „Thanka“ genannt. Das Rollbild entspricht meinem nomadischen Wesen. Die Bedeutungsproportion, die ich verwende, ist ein altes dramaturgisches Stilmittel der visuellen Erzählung. So mischt sich hier der Einfluss der mittelalterlichen, erzählenden Wandmalerei Europas mit der Technik und der Art der Darstellung von Tieren in der nepalesischen volkstümlichen Malerei. Mit dem performativen Beschreiben der Wände möchte ich die Reise und das Schreiben, für mich untrennbare Tätigkeiten, in den Innenraum, den Kunstraum übersetzen. Ob ich dabei in einen ähnlichen Denkfluss, wie ich ihn auf Reisen erlebe, fallen werde, wird sich zeigen. Die Vorstellung einer fiktiven Reise in einem begrenzten Raum, die Idee, eine „Reiseerzählung“ direkt an der Wand zu entwickelt, entspricht meinem alltäglichen Bewusstsein, dass Sicherheiten nicht existieren. Und, dass wir unseren persönlichen Winterkrieg, ohne die Möglichkeit der Nachbesserung, führen müssen.

Maria Peters, 21.1.2007

„Thankas“ sind aus der Alltags- und Festtagskultur des indischen Raumes nach wie vor nicht wegzudenken. Die Motive dieser mobilen Kunstwerke sind immer Illustrationen. Sie zeigen Religiöses wie auch Profanes und verankern die Welt in einem System. Zumeist gibt es in Analogie zu den acht Wegen zur Weisheit Buddhas acht Bildebenen und die Darstellung ist symbolhaft und naiv. Die Tiere auf den Thankas, die Maria Peters für diese Ausstellung gefertigt hat, stehen auch symbolisch für etwas mehr oder weniger Bestimmtes (eine Beziehung, eine Charaktereigenschaft, eine verborgene Angst, ...) und sie erinnern an antiquierte Illustrationen in Lexika oder Kinderbüchern. Ihre Bedeutung ist eine gewachsene, keine überlieferte. Die Tiere, die auf den frei hängenden Thankas der Künstlerin immer wieder vorkommen, scheinen einer Ordnung zu folgen, sind Module in einem nicht klar definierten, bewusst offen gehaltenen System. Eine Ausnahme in den nepalischen Thankas bilden die Berge. Sie sind so realistisch´dargestellt, dass Kenner der dortigen Bergwelt den Standpunkt des Malers ausmachen und die einzelnen Gipfel, Grate und Täler einwandfrei identifizieren können. Maria Peters verzichtet auf eine spezifische Verortung. Nur hier und da gibt es Wege oder die Draufsicht auf eine Siedlungsstruktur im (Schnee)Weiß. Der Bedeutungsproportion folgend, gibt es in Nepal beispielsweise Festtags-Thankas mit riesigen Buddha-Darstellungen, die ganze Hügel bedecken. Auch die Tiere, die Maria Peters’ Rollbilder bevölkern entsprechen in der Proportion nicht ihrer natürlichen Größe. Bei der Darstellung des Hasen auf dem Thanka links vom hinteren Eingang fällt nicht nur seine Überdimension auf, sondern auch sein ambivalentes Wesen: freundlich und unheimlich zugleich. Dieses Bild ist in dem begehbaren, mobilen Buch, als das das Ausstellungsprojekt „Winterkrieg in Tibet. Ich und die Anderen“ durchaus betrachtet werden kann, der Titel. Es spielt auf Tibet - die kleine Landschaftsdarstellung unterhalb des riesenhaften Hasen zeigt das geliebte Land - und die Schreibperformance im vorderen, tonnengewölbten Raum der Galerie gleichermaßen an. Neben dem Hasen ist der erste Satz von Friedrich Dürrenmatts Endzeitfiktion „Winterkrieg in Tibet“ geschrieben, in der es neben Autobiografischem um einen zukünftigen Krieg in einem unterirdischen, labyrinthischen Höhlen- und Tunnelsystem geht, das der Icherzähler als versehrter Überlebender obsessiv mit Inschriften bedeckt: „Es ist immer wieder von irgendjemandem versucht worden, sein eigenes Leben zu beschreiben. Ich halte das Unterfangen für unmöglich, wenn auch für verständlich je älter man wird, desto stärker wird der Wunsch Bilanz zu ziehen.(...)“. Maria Peters weiß vor der Schreibperformance, die voraussichtlich zwei bis drei Tage dauern wird und während der die Künstlerin in der Galerie ihr Lager aufschlagen wird, noch nicht wie der Text lauten wird. Es gibt im Vorfeld nur thematische Notizen und eine Idee als Grundgerüst wie die Zeilen verlaufen sollen. Wie sich ihre fiktive Reise festschreiben wird und wann und wo der Schreibfluss sie zu allgemeinen Beobachtungen und persönlichen Erkenntnissen führen wird, wird sich im Prozess zeigen.

Wie gehen traditionelle Rollbilder von Nomaden aus einem anderen Kulturkreis mit einem subjektiven, durch Tiere visualisierten Erklärungsmodell und die Endzeitfiktion Dürrenmatts in der sein Protagonist sich mit dem Labyrinth abfindet und im Chaos verharrt zusammen? Und wie kann sich dazu noch der zeitgenössische amerikanische Roman von Matt Ruff, in dem ein junger Mann mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung in seinem Kopf ein Haus baut und in penibler Ordnung jeder der über 100 „Seelen“, die sein Ich bilden, einen Platz und eine Rolle zuweist, gesellen? Maria Peters liest, zitiert, reflektiert, rezipiert und geht einen neuen Weg, schreibt ein Buch auf ihre Art. Darin geht es um das Erkennen, das selbst eine Reise ist. Wunderschön und beschwerlich zugleich. Wie oft möchte der Reisende umkehren und ist im Nachhinein froh es nicht getan zu haben? Eine Zeichnung, die ein Urpferd inmitten einer paläontologischen Jagdszene zeigt, steht für das Loslassen. Ihr ist folgender Dialog eingeschrieben: „Die Angst, zu schwach zu sein, lässt mich nicht mehr los.“ „Aber warum? Es ist doch längst vorbei.“ Das Urpferd steht für das Mitschleppen der Vergangenheit. Es ist ein Überbleibsel. Heute müssen Pferde keine Fluchttiere mehr sein.

Ingeborg Erhart

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Maria Peters
Winterkrieg in Tibet. Ich und die Anderen.
Ort: Stadtturmgalerie