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verlängert bis 27. September 2020

Neo Rauch - Werke aus der Sammlung Hildebrand
30.01.2020 - 10.05.2020

Anlässlich ihres fünfjährigen Gründungsjubiläums präsentiert die G2 Kunsthalle von Februar bis Mai 2020 eine Auswahl an Arbeiten Neo Rauchs aus dem Bestand der Sammlung Hildebrand. In zwei großen Sälen vereint die Ausstellung Malerei, Zeichnung, Druckgrafik und Skulptur aus den Jahren 1993 bis 2018 des 1960 in Leipzig geborenen Künstlers. Rauch ist ein international renommierter, zeitgenössischer Maler, der seit Mitte der 1990er Jahre mit seiner spezifischen Bildsprache die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst nachhaltig prägt.

Im ersten Raum begegnen sich Werke des Künstlers aus den 1990er Jahren und ein großformatiges Gemälde von 2013. Die Gegenüberstellung erlaubt es, die Genese von Rauchs Werken nachzuvollziehen, die ab Mitte der 2000er Jahre in monumentale Mehrfigurenkompositionen kulminiert.

Seine frühen Werke, wie die Papierarbeit Plan von 1994 im außergewöhnlichen runden Format, sind durch ein reduziertes Bildvokabular und schablonenhafte Figuren sowie flächige, monochrome Farbhintergründe, oft in erdigen Tönen gekennzeichnet. Neben der für diese Schaffensphase typischen Anwendung von Collage- und Montagetechniken, die ihren Ursprung in Dada und Surrealismus haben, deutet sich in diesem beeindruckend großen Tondo bereits eine räumliche Staffelung an. Inspiriert vom Comic teilen sich in Sofa aus dem Jahr 1993 Schriftzeichen und Figuren noch eine gemeinsame Ebene auf der Fläche. In der Horizonte-Serie lotet der Künstler 1995 schließlich die Tiefe des Bildraumes aus. Dieses Kompositionsprinzip sollte in der Folge mehr und mehr an Bedeutung in Rauchs Werken gewinnen. Die Schaffung eines einheitlichen Tiefenraumes ermöglicht ab diesem Zeitpunkt die Ausweitung des malerischen Handlungsfeldes und erlaubt eine mehrdimensionale Anordnung der Figuren mit komplexen Interaktionsmöglichkeiten.

Die Vereinzelung des Individuums innerhalb der Gesellschaft ist ein wiederkehrender Topos in Rauchs Œuvre. Auf bühnenartigen Schauplätzen werden Figuren gruppiert, die in befremdliche Tätigkeiten verstrickt sind. Die fünf Protagonisten des Gemäldes Das Treffen von 2013 sind zwar einander zugewandt, doch zugleich isoliert in der spezifischen Zeitlichkeit einer fiktiven Bildwelt. Der geschlossenen, hieratischen Anordnung des Figurenpersonals ist eine Pyramidalkomposition zugrunde gelegt, die aus der italienischen Tafelmalerei der Renaissance bekannt ist. Die Gestalten scheinen, auch wenn sie aufeinander zugehen, in ihren Bewegungen erstarrt. Ihre Blicke treffen sich nicht, sondern laufen ins Leere. Das Unterbrechen einer Aktion, die nicht zu Ende geführt wird, ist ein melancholisches Motiv. Ganz im Sinne einer Sacra Conversazione – ein christlicher Bildtypus, der den inneren Dialog zwischen Gottesmutter, Heiligen und Gläubigen visualisiert – findet die Zusammenkunft im Bild und der Gedankenaustausch zwischen Betrachter und Kunstwerk kontemplativ auf vergeistigter Ebene statt. Allerdings verstören Fehde, Widerstreit, groteske und verspielte Elemente das Moment des Innehaltens. Das Aufeinandertreffen konträrer Energien und ambivalenter Inhalte ist ein widerholt von Rauch in seinem Bildkosmos eingesetztes Mittel.

Im zweiten Ausstellungsraum entfalten drei eindrucksvolle, großformatige und farbintensive Gemälde aus den Jahren 2016 und 2018 ihre rätselhaft narrative Kraft. Zauberer, Künstler, Knechte, Gärtner, Handlanger, Scharlatane, Wächter, Zuschauer oder Wegelagerer ebenso wie hybride und monströse Wesen postieren und versammeln sich an Kreuzungen, Hecken und Mauern, auf ausgetretenen Pfaden, Dorfplätzen und in Ställen. Diese atmosphärisch ausgestalteten Gemüts- und Seelenlandschaften sind in künstliches, grelles Licht getaucht und enthalten zahlreiche Reminiszenzen an Vergangenheit, Gegenwart, Sagen und Mythen. Bruchstellen von Traum und Realität verbinden sich hier zu Projektionen aus der Erinnerung.

In dieser schlafwandlerischen Betriebsamkeit verwunschener und zugleich suspekter Orte leben die Arbeiterfiguren und apokalyptischen Industriearchitekturen aus Rauchs früher Schaffensphase der 1990er Jahre fort. Kryptische Handlungen evozieren Verwirrung und Beunruhigung ebenso wie Erwartung und Zuversicht, sind jedoch losgelöst von konkreten historischen und gesellschaftlichen Ereignissen. Das wiederkehrende Figurenrepertoire weist nicht selten portraithafte Züge auf, auch wenn sich Rauchs Charaktere und ihre Rollen nicht einfach identifizieren lassen. Seine Kompositionen entziehen sich der prosaischen Nacherzählung durch eine wohlkalkulierte und programmatische Mehrdeutigkeit, die alle Bildelemente bestimmt. Vielmehr verdichten sich in ihnen Geschichte und Biographie zu einer in sich geschlossenen Welt, die tiefverwurzelte Sehnsüchte nach der Bergung und Sicherung von Verlorengeglaubtem verwahrt und dabei offen für Deutungen bleibt.

In allen drei großformatigen Kompositionen wird das Geschehen im Hintergrund von einem Turm überragt. Dieses Motiv kann paradigmatisch als Widerhall kindlicher Prägung und gleichnishaft als Schutzwall in Rauchs Bildwerken verstanden werden. Der Künstler ist in Aschersleben aufgewachsen. Die Silhouette der sachsen-anhaltinischen Kleinstadt wird noch heute von den mittelalterlichen Türmen der alten Stadtmauer bestimmt. 2012 bekundete Rauch seine Verbundenheit mit Aschersleben, indem er am Ort seiner Kindheit eine Stiftung gründete, die seinem grafischen Schaffen gewidmet ist. Die vier im gleichen Raum ausgestellten Farblithografien Abendmelodie, Brüter, Fürstin und Bann entstanden 2011 im Zuge des Aufbaus seiner Grafikstiftung. Ergänzt wird die Ausstellung in der G2 Kunsthalle um die Bronzeskulptur Nachhut aus dem gleichen Jahr sowie eine Reihe von Gemälden kleineren Formats von 2011 bis 2018.

Text: Anka Ziefer

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Neo Rauch, geb. 1960 in Leipzig, 1981–1986 Studium der Malerei bei Arno Rink an der HGB Leipzig, 1990 Meisterschüler bei Bernhard Heisig, 1993–1998 Assistent bei Arno Rink, 2005–2008 Professur für Malerei und Grafik an der HGB Leipzig, 2012 Eröffnung der Grafikstiftung Neo Rauch in Aschersleben, 2018 Bühnenbild und Kostüm mit Rosa Loy für Richard Wagners Oper Lohengrin, Bayreuther Festspiele. Rauch lebt und arbeitet in Leipzig. Preise & Auszeichnungen (Auswahl): 2019 Europäischer Kulturpreis TAURUS, 2018 Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Einzelausstellungen (Auswahl): 2019 Uffizien (Palazzo Pitti), Florenz; 2019 Fondazione Coppola, Vicenza (gemeinsam mit Rosa Loy); 2019 Drawing Center, New York; 2019 David Zwirner, Hong Kong; 2018 Des Moines Art Center, Iowa; 2018 Museum de Fundatie, Zwolle, NL; 2016 Galerie Eigen + Art, Berlin; 2016 David Zwirner, London; 2013 BOZAR – Palais des Beaux-Arts, Brüssel; 2012 Kunstsammlungen Chemnitz (gemeinsam mit Rosa Roy); 2011 Museum Frieder Burda, Baden-Baden; 2010 Museum der bildenden Künste, Leipzig / Pinakothek der Moderne, München; 2007 Metropolitan Museum of Art, New York; 2006 Musée d`Art Contemporain de Montreal, Kanada; 2004 Albertina, Wien; 2002 Bonnefantenmuseum, Maastricht; 2000 GfzK Leipzig / Haus der Kunst München / Kunsthalle Zürich; 1997 MdbK Leipzig. Gruppenausstellungen (Auswahl): 2014 kestnergesellschaft, Hannover (Andreas Gursky – Neo Rauch – Jeff Wall), 2012 Hamburger Kunsthalle (Müde Helden – Ferdinand Hodler, Aleksandr Dejneka, Neo Rauch).