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"Es ist wie in einem Kino" als eine plötzliche Bilderflut am Himmel über der Stuttgarter Kaserne den Elektrotechniker August Natterer in eine beglückende Sphäre versetzt. Seine halluzinatorischen Zeichnungen, in denen er das für ihn weltbewegende Erlebnis notiert, gehören zu den berühmtesten Werken der Sammlung Prinzhorn, darunter die "Weltachse mit Haase" und der "Antipapst". Die "Hexenkopf-Landschaft" ist eines der meistpublizierten Bildern der Sammlung überhaupt und der "Wunder-Hirthe" hat schon Max Ernst zu einer Bildschöpfung inspiriert.

August Natterer (1864-1933) war ein hochambitionierter, weltmännischer Elektrotechniker und ausbildender Meister im eigenen "Electrotechnischen Installations-Geschäft & mechani-sche Werkstätte", das in Würzburg vor allem die Universität mit Apparaturen belieferte. Selbst für Prof. Röntgen soll er gearbeitet haben. 1902 spart die Universität ihre Aufträge durch einen angestellten "billigeren" Schlosser ein. Natterers Geschäft war bald "ruiniert". Versessen stürzt er sich in Erfindungen und bemüht sich erfolglos um eine Stelle als Vorarbeiter an einer Fachschule. 1907 gerät die Krise zum psychotischen Zusammenbruch mit Einweisung in die Psychiatrie. Mit dem überwältigenden halluzinatorischen Bilderleben von Schlössern, Schlachtenszenen und der welterschaffenden Hexe gehen quälende körperliche Sensationen einher. In einem lebensbedrohlich empfundenen Prozess verwandeln sich Körpergefühl und Identität. Natterer spürt "Wolle oder Seide" unter der Haut, "aus den Augen sei Sand gekommen" und das Herz sitze "versteinert" in der Bauchhöhle. Fürchterliche Ängste treiben ihn um, er glaubt, wegen "Unkeuschheit" in der Hölle zu landen und den Erduntergang auszulösen.

Von Oktober 1907 bis August 1909 ist Natterer in der Heilanstalt Rottenmünster unterge-bracht. Anschließend überführt man ihn in die Königlichen Heilanstalt Weissenau, wo er bis 1917 bleibt. Die Offenbarungen der halluzinierten Bilder werden zum Überlebens-programm. Natterer agiert als Prophet, Erlöser und "Kaiser Août I". Er konstruiert einen 'Familienroman', der in direkter Abstammung auf Napoleon zurückgeht, lehnt daher alles Deutsche ab und freut sich während des Ersten Weltkriegs über die Verluste auf deutscher Seite während er sich mit dem französischen Gegner identifiziert. Er muss geheime Inschriften aufdecken, Petschaften finden, seine Geschwister von ihren königlichen Neben-rollen überzeugen und imaginiert aus Kleinstadthuren seine Gemahlinnen. Mit Initialen, Siegel- und kostbar wirkenden Wappenbildern, die sich aus der Familiengeschichte speisen, siegelt Natterer sein Leben als Majestät.

Erst vier Jahre nach dem halluzinatorischem Erlebnis beginnt Natterer 1911 die überir-dischen Bilder auf Papier festzuhalten, die er als "Geheime Staatsacten über das Welt-gericht" hütet. Das Moment der Metamorphose ist in allen diesen Werken entscheidend. Das päpstliche Haupt des "Antichrist", der mit ausgebreiteten Armen am Himmel steht, stellt eine Granate dar, die sich zur "päpstlichen Tiara und in einen "Strohhaufen" verwandelt. Ein explosives Gemisch, das vom Durst nach Rache zeugt: "Wenn das Zeichen T am Himmel erscheint, werde ich alles an mich reissen", droht der eingesperrte Zeichner. Das Vexierbild ist ein beliebtes Wahrnehmungsspiel. Natterer entwickelt seine universale "Hexenkopf-Landschaft" in verschiedenen Schichten, so dass nicht nur die Hexe oder die Landschaft wechselt, sondern auch Tag- und Nachtwelt. Und immer wieder die Frau als Verkörperung des Bösen: Die Hexe, die Großmutter des Teufels, als Welterschafferin, in ihrem Gefolge das Krokodil und der (deutsche) Adler. Mit ihrer zwischen den weit gespreizten Beinen entblößten Vulva bringt sie den "Wunder-Hirthen" zu Fall und die "Teufelsbeine" des Hasen auf der Weltachse sind "typisch ver-schränkte weibliche Beine". Natterers Reue über die "Todsünde" im Bordell drängt sich auf, aber er zeichnet zugleich seine Erlöserrolle ein: Er ist auch der "gute Hirt" - Gott!

Daneben entstehen pedantische Kanonenentwürfe des "Weltuniversitätsmechanikers", Blumenstücke oder Frauenbildnisse. In den Anstalten beschäftigt sich Natterer ebenso mit Reparaturarbeiten an Klavier und Uhren. 1917 kehrt er nach unzähligen Protesten gegen entwürdigende Behandlungen, die letztlich auch die Ärzte rat- und hilflos machen, aus der Anstalt Weissenau wieder nach Rottenmünster zurück. Hier stirbt er 1933 mit neunund-sechzig Jahren überraschend an Herzversagen.

Schon lange war eine monografische Werkschau August Natterers geplant. Nun stellt die Sammlung Prinzhorn erstmals sein Gesamtwerk aus, bereichert um Leihgaben aus dem Familiennachlass. Im unteren Teil des Saales werden die mysteriösen Zeichnungen gezeigt, die mit ihrer kultischen Aura faszinieren. Installationen zur "Hexenkopf-Landschaft" und den "Rockverwandlungen" thematisieren die Verwandlungskünste, mit denen Natterer sein hallu-zinatorisches Erleben bildnerisch umzusetzen versucht. Auf der Galerie ist das Leben des "schwäbischen Tüftlers" und Träumers in weiteren Bildwerken sowie Briefen und Fotos dokumentiert. Pressetext

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Weltachse mit Haase - August Natterers halluzinatorische Zeichnungen
Das Gesamtwerk August Natterer