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Man erkennt sie in den Straßen Istanbuls nur, wenn man um sie weiß: Männer mit geheimnisvollen kleinen Kisten unter dem Arm. Aus den Kisten kommt ein Lied. Das nämlich eines Vögelchens. Die Männer fangen die wild lebenden Singvögel ein und sperren sie in einen Käfig. Nicht etwa, um sie zu verkaufen, sondern um ihrem Gesang zu lauschen. Der Käfig wird mit Stoff verhüllt, was dazu dient, die Tiere vor zu viel Stress zu bewahren. Denn unter Stress singen sie nicht. Den Käfig trägt sein Besitzer wie eine Musikbox durch den Tag.

Es gibt in der Stadt etwa 15 Kaffeehäuser, in denen sich die Vogelmänner treffen. Dort sitzen sie beieinander und hören dem Zwitschern zu, das aus den verschatteten Käfigen erklingt. Erweist sich einer der Vögel als schlechter Sänger, wird sein Besitzer gebeten, das Café zu verlassen – die anderen Vogelmänner haben Sorge, das unmusikalische Tier könne einen schlechten Einfluss auf ihre Vögel haben.

Singvögel zu fangen hat in Istanbul eine Tradition. Den Brauch hat man von den Griechen übernommen, die hier zur Zeit des Osmanischen Reiches lebten. Mit einem begabten Vogel ließ es sich einst herrlich prahlen. Als die Stadt noch stiller war, fiel ein Mann auf, wenn er einen Käfig bei sich hatte, aus dem wunderbarer Gesang ertönte.

Heute gibt es noch einige Hundert Vogelmänner in Istanbul. Und selbstverständlich gibt es keine Vogelfrauen. Es ist eine Gemeinschaft aus einer anderen Zeit. Wenn man heute bei der Vogeljagd erwischt wird, zahlt man eine hohe Strafe. Zwar stehen die beliebtesten Vögel der Vogelmänner, Stieglitz und Grünfink, nicht unter Artenschutz. Doch aus gutem Grund ist es nun mal auch in der Türkei verboten, wilde Tiere einzusperren. Die Männer riskieren die Strafen. Einen Vogel in einer Tierhandlung zu kaufen kommt für sie nicht infrage. Ihrer Ansicht nach können domestizierte Vögel einfach nicht singen.

Es gab eine Zeit, da waren Tiere ein Mittel zum Zweck. Tiere hatten keine Rechte. Die meisten Vogelmänner haben die Kunst des Vogelfangs von ihren Vätern gelernt. Und die meisten können sich kein Leben ohne Vogelgesang vorstellen. Finken singen ähnlich wie Kanarienvögel, sie zwitschern, tschilpen und gurren. Der Gesang eines Vogels ist ein komplexes Lied, man braucht ein ganzes Leben, um es zu verstehen. Die Vögel markieren mit ihren Lauten ihr Revier, sie wollen außerdem ihre Vitalität zur Schau stellen. Vögel, die in großen Gemeinschaften leben, singen primitive Lieder. Begabt sind die Solisten. Sie müssen Konkurrenten fernhalten und die Aufmerksamkeit potenzieller Nistpartner über große Distanz hinweg gewinnen. Die Tradition der Vogelmänner in Istanbul stirbt aus. Nicht nur wegen der modernen Tierschutzverordnungen. Es finden sich auch immer weniger junge Leute, die Lust haben, sich die Anstrengungen des Vogelfangs anzutun. Das ist gut für die Vögel. Nur schade, dass sich bald vielleicht niemand mehr die Mühe machen wird, ihnen so aufmerksam zuzuhören.

Tillmann Prüfer

Maria Sturm, geboren 1985 in Ploiesti, Romänien, lebt seit 1991 in Deutschland, z.Z. Berlin und Providence, USA.

Cemre Yesil, geboren 1987 in Istanbul, lebt und arbeitet in Istanbul und London.

Für das Projekt “For Birds' Sake” arbeiteten die beiden Fotografinnen 2014 zusammen. Die Arbeit wurde vor kurzem von La Fabrica Madrid als Fotobuch veröffentlicht und erschien in COLORS Magazine, The Guardian, British Journal of Photography und im ZEITmagazin.

Zu sehen war die Arbeit bisher während der Internacional de Fotografia de Cabo Verde, FotoIstanbul, war Finalist bei PHE OjodePez Award für Human Values 2015 und wurde bei Daire Galerie Istanbul und La Fabrica Madrid ausgestellt.