press release

Das japanische, zwischen 1968 und 1969 in nur drei Ausgaben erschienene Fotomagazin Provoke gilt als Höhepunkt der Fotografie der Nachkriegszeit. In einer weltweit ersten Ausstellung zum Thema widmet sich die Albertina den Schöpfern und der komplexen Entstehungsgeschichte des Magazins. Die Schau zeigt einen repräsentativen Querschnitt durch die fotografischen Strömungen Japans der 1960er und 1970er Jahre. Mit rund 200 Objekten vereint Provoke Arbeiten der einflussreichsten japanischen Fotografen, darunter Daidō Moriyama, Yutaka Takanashi, Shomei Tomatsu und Nobuyoshi Araki. Vor dem Hintergrund der massiven Protestbewegungen in Japan zu dieser Zeit entstehen ihre Bilder an einem historischen Wendepunkt zwischen gesellschaftlichem Zusammenbruch und der Suche nach einer neuen Identität Japans. Ihre Fotografien sind sowohl Ausdruck des politischen Umbruchs als auch der Erneuerung vorherrschender ästhetischer Normen.

Die Ausstellung untersucht Provoke im historischen Kontext und fokussiert dabei den Dialog der Fotografien der Gruppe mit der zeitgleichen Protestfotografie und Performance-Kunst.

Zum einen wird die Fotografie als Dokument von - oder Aufruf zum - Protest gegen Ungerechtigkeit beleuchtet: Um 1960 erscheinen im Zusammenhang mit der ersten großen Protestwelle des Landes, die sich gegen die Erneuerung des Bündnisses zwischen den Vereinigten Staaten und Japan richtet, zahlreiche Bücher. Einige davon halten die Protestkundgebungen fest, andere hingegen beschäftigen sich mit damit in Verbindung stehenden Themen, vor allem mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Rund um die Jahre des Erscheinens von Provoke geht aus den äußerst kreativ gestalteten Demonstrationen eine fesselnde Bildwelt des Widerstands gegen das gesetzeswidrige Handeln von Großkonzernen und den Despotismus des neoliberalen japanischen Staates hervor.

Im weiteren Verlauf der 1960er Jahre nehmen die Protestbewegungen zu, was eine Flut von Fotobänden und -drucken zur Folge hat. Die Mitwirkenden von Provoke – der Kritiker Koji Taki, der Schriftsteller Takahiko Okada, der Kritiker und Fotograf Takuma Nakahira und die Fotografen Yutaka Takanashi und Daido Moriyama – vertreten die Auffassung, dass sich die Protestfotografie erschöpft habe und langfristige Veränderung durch direktes politisches Handeln unmöglich herbeizuführen sei. Dennoch orientieren sie sich in ihren Texten und Bildern durchwegs an den von der japanischen Protestfotografie entwickelten ästhetischen Strategien: Ihre Werke zeichnen sich durch ein innovatives Grafikdesign aus, das mit Bildfolgen, griffigen Text-Bild-Kombinationen, dynamischen Ausschnitten und einem Wechselspiel von bewusst gewählten geringwertigen Materialien (raues Papier, niedrig aufgelöster Druck) mit Ausfaltern und ungewöhnlichen Formaten arbeitet.

Die Schau der Albertina konzentriert sich darüber hinaus auf jenen Aspekt der japanischen Fotografie, der die Mythologien des modernen Lebens kritisch hinterfragt: Inspiriert von der 1957 erschienenen Essaysammlung Mythen des Alltags (Mythologies) von Roland Barthes entstehen zahlreiche pointierte Projekte bedeutsamer Fotografen, u.a. von Nobuyoshi Araki, Eikoh Hosoe und Shomei Tomatsu. Das Spektrum ihrer Arbeiten reicht von der Darstellung gewagter Sexualität über die Abbildung von Einsamkeit und Grausamkeit bis hin zu mutigen Abstraktionen. Sie legen das kollektive Trauma bloß, welches die Erfahrungen in Japan um die Mitte des 20. Jahrhunderts hinterlassen haben, und zeigen das Land verwundet und in hohem Maße instabil.

Zuletzt thematisiert die Ausstellung die japanische Fotografie jener Jahre als Spielart der Performance-Kunst bzw. als Dokumentation von Live-Aktionen: Daido Moriyama, Takuma Nakahira und Nobuyoshi Araki gehören zu jenen Fotografen, die um 1970 ein großes Interesse daran entwickeln, die Arbeit in der Dunkelkammer oder andere mit der Herstellung von Abzügen verbundene Prozesse als sichtbaren und aktiven Bestandteil des fotografischen Schaffens darzustellen. In ihren Bestrebungen gehen ihnen Tanz-Performer wie Tatsumi Hijikata voran, die mit Filmemachern und Fotografen zusammenarbeiten, aber auch Gruppierungen wie das Hi-Red Center, welche die Grenze zwischen Fotodokumentation und Live-Aktionen, bei denen die Fotografie und andere Medien eine Rolle spielen, zum Verschwimmen bringen. Der Einfluss ist jedoch nicht einseitig: Unmittelbar angeregt durch das Schaffen der Fotografen von Provoke wenden sich Jiro Takamatsu als Mitglied des Hi-Red Center und Koji Enokura, der der diesem nahestehenden Künstlergruppe Mono-Ha angehört, in den frühen 1970er Jahren der fotografischen Konzeptkunst zu.

Die Ausstellung ist eine Koproduktion zwischen Albertina, Fotomuseum, Winterthur, Le Bal, Paris und Art Institute of Chicago.