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Im Fokus der Themenkomplexe »Street Life« und »Home Stories« wird eine umfangreiche Auswahl von Kunstwerken vorgestellt, deren Schwerpunkt eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen, politischen und sozialen Sujets bildet. Es ist das Konzept der Ausstellung, Wechselwirkungen zwischen Epochen und zwischen künstlerischen Herangehensweisen darzulegen, ohne dabei didaktisch oder chronologisch vorzugehen. Die Stadt, die Straße und das häusliche Umfeld sind die zentrale Bühne für diese generationsübergreifenden Themen.

Seit über 40 Jahren sammelt die ehemalige Galeristin Ingvild Goetz die ganze Breite der zeitgenössischen Kunst. Im Bestand der Sammlung Goetz finden sich die klassischen Gattungen Malerei, Skulptur und Grafik, aber auch Fotografie und Video und nicht zuletzt eine Vielzahl von raumgreifenden, installativen Arbeiten. Während sich Ingvild Goetz bei allen anderen Kunstformen eine zeitliche Beschränkung auferlegt hat, gibt es in ihrem Fotografiebestand nicht nur aktuelle Positionen, sondern es sind auch zentrale fotografische Entwicklungen des gesamten 20. Jahrhunderts vertreten.

Die Straße als Motiv der Fotografie

Die Straße wird schon in den Anfängen der Fotografie zum Sujet, sie wird zum Multiplikator einer subjektiv empfundenen Stimmung, die gesellschaftliche Phänomene und deren Geschichtlichkeit erkennt und festhält. »Street Photography« wird zum Schlagwort für das Werk von Eugène Atget (1857–1927) oder Henri Cartier-Bresson (1908–2004). Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Tendenz weg von den Errungenschaften des modernen städtischen Lebens hin zu soziologisch motivierten Ansätzen.

In den letzten Jahren fokussiert der Blick der Fotografen statt der Stadtmitte den Vorort, den Nebenschauplatz städtischen Lebens. Es sind also nicht die repräsentativen Stätten, die Touristen-attraktionen, die zum Bildinhalt werden, vielmehr sind es Orte, die Lebensbedingungen offenlegen und die dadurch ebenso das Porträt in seiner Aussage unterstreichen, so in den Werken von Francis Alÿs, Stan Douglas oder Tobias Zielony. Der Fotograf wird zum Beobachter, zum observierenden Betrachter, wie Susan Sontag 1978 feststellte: »Der Fotograf, eine bewaffnete Spielart des einsamen Wanderers, pirscht sich an das großstädtische Inferno heran und durchstreift es – ein voyeuristischer Spaziergänger, der die Stadt als eine Landschaft wollüstiger Extreme entdeckt.«

Die Essenz urbaner Strukturen in einem kurzen Augenblick, der den Zeitgeist und gleichzeitig eine über die Zeit währende Aussage übermittelt, offenzulegen, ist jenseits der Dokumentarfotografie Leistung der künstlerischen Fotografie, so bei Thomas Struth oder Candida Höfer. Das Leben in den Straßen einer Stadt zeigt die Beschäftigung des Künstlers mit soziologischen Beziehungen – und gewährt damit einen Blick auf die Gesellschaft und deren Bedingungen. Die Straße als öffentlicher Raum zeigt damit weit mehr als intime Porträts, sie steht als Chiffre für die Möglichkeiten individueller Entfaltung und Lebensgestaltung, etwa bei Evelyn Hofer und Ed van der Elsken.

In der Fotografie ist eine Expansion von der Wand in den Raum zu beobachten, insbesondere wenn man an die raumgreifenden Arbeiten von Wolfgang Tillmans oder Robin Rhode denkt. Diese installative Präsentation steht der traditionellen Hängung der Silbergelatineabzüge eines August Sander oder Walker Evans fast diametral gegenüber. Wolfgang Tillmans und Paul Graham, die ihre Arbeiten auch als Künstlerbücher gestalten, erweitern das Medium um neue Präsentationsformen im Ausstellungsraum. Aus Kenntnis des Rezeptionsverhaltens der Betrachter setzen die Künstler Leerstellen bewusst ein. Es bleibt Raum für die Vorstellungskraft des Betrachters, für dessen Reflexion über eigene Erfahrungen und Erinnerungen. Die Leerstellen fungieren als Verbindungselemente, sie verbinden Erzählpassagen, lassen Zeitsprünge zu – und berücksichtigen den individuellen Erfahrungsraum des Betrachters. Das häusliche Umfeld als Bühne fotografischer Inszenierungen

Dem Thema »Home Story« haben sich die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung auf verschiedene Weise genähert. Bei vielen ist es nur eine Facette in ihrem Werk, bei anderen ein zentrales Thema. Künstlerische Positionen beschäftigen sich mit der Darstellung von Innenraum und der Inszenierung der Privatheit im häuslichen Umfeld. Szenische Ausstattung, ein narrativer Ansatz, der eine Idee verfolgt sowie die Einbeziehung des Betrachters sind Merkmale von Inszenierung. Bei Künstlern wie Cindy Sherman, Laurie Simmons und Jeff Wall entspricht die Herangehensweise all diesen Kriterien. Nobuyoshi Araki, Nan Goldin und Elmgreen & Dragset zeigen hingegen ihr privates Umfeld in sehr persönlicher, offenbarender Art und Weise – als Fototagebuch.

Das Interieur als Chiffre für gesellschaftliche und geschlechtliche Rollenbilder ist bei Laurie Simmons, Daniela Rossell und Cindy Sherman künstlerische Strategie. 80 Jahre zuvor hat sich schon August Sander in seinem epochemachenden Mappenwerk Menschen des 20. Jahrhunderts mit dem Thema gesellschaftlicher und geschlechtlicher Rollenbilder auseinandergesetzt. Mit nahezu enzyklopädischem Anspruch hat er ein Bildarchiv geschaffen, das einen Querschnitt durch alle Gesellschaftsschichten des ausgehenden Kaiserreichs und der Weimarer Republik darstellt.

Der Themenkreis des Projekts schließt sich bei vielen Künstlern der Ausstellung werkimmanent. Es gibt Wechselwirkungen zwischen Epochen, künstlerischen Herangehensweisen sowie zwischen der Stadt, der Straße und dem häuslichen Umfeld. Vor allem die Arbeiten von Jeff Wall und Stan Douglas stehen an einer sinnbildlichen Schnittstelle. Ein Ort mit zwei Seiten, dem Innen und dem Außen, der Straße und dem Haus, wird bei Stan Douglas zur Chiffre, zum Symbol und schließlich zur Bühne für wirtschaftlichen Untergang, menschliches Schicksal und Tragödie. Die von ihm gezeigten Arbeiten repräsentieren die Wechselwirkungen von »Home Story« und »Street Life«.