press release only in german

BODYCHECK

Mitten in der Vollversorgung, den täglich ansteigenden Warenströmen in LKW-Kolonnen auf der Autobahn, im Internet oder an der Supermarktkasse, fehlen uns die Dinge. Die meisten Gegenstände, mit denen wir tagtäglich umgehen, sind Maschinen oder Wegwerfartikel, so oder so Massenprodukte. Informationen und Nachrichten, die unseren Alltag strukturieren und bestimmen, erreichen uns körperlos digital. Das eigentliche Gegenüber unserer subjektiven Alltagsbewältigung, das objekthafte Ding, gerät aus unserem Blickfeld und unserer Wahrnehmung. Die Alltagsmaschinen – Radio, Fernsehen oder Auto – sprechen zu uns, zeigen uns etwas oder transportieren uns; sie dienen, indem sie voraussetzen, bedient zu werden. Als Anderes, als objektives Gegenteil des Subjekts, ist das Ding aus unserem täglichen Leben verschwunden. Wie ein Stolperstein legt sich da das Skulpturale in den Weg. Das Kunstwerk ist das Gegenteil eines Massenartikels, es steht für konkrete, nicht austauschbare Erfahrung. Selbst dinghaft, hält Skulptur unseren Zugang zum einzelnen, konkreten Ding offen.

Der einzige gesellschaftliche Ort, an dem versucht wird, dem Ding als ihm selbst gerecht zu werden, ist heute die Kunst. Das macht die uralte Bildtechnik Skulptur im Zeitalter digitaler Bild und Datenübertragung so aktuell. Skulptur antwortet

Als Skulptur ist das Kunstwerk körperlich präsent. Anders als Fotografie, Malerei oder digital animierte Bildschirmoberflächen (oder Lesetext) wendet sich Skulptur nicht an das isolierte Auge, sondern an den wahrnehmenden ganzen Leib. Skulptur vermag, unserer leiblichen Präsenz körperlich zu antworten. Dieser engen Beziehung von Skulptur und Leib folgend, ist es reizvoll, die thematischen Schwerpunkte heutiger Skulptur mit den Fähigkeiten und Grenzen des menschlichen Leibes zu vergleichen.

Die nächste Verbindung zwischen den Dingen und dem Leib liegt buchstäblich in unseren Händen. Artur Zmijewski thematisiert diesen Ausgangspunkt von Bildhauerei in seinem eindrücklichen Video „Books“, in dem ein Nervenleiden den festen Zugriff auf die Dinge in Frage stellt. Mit den Händen begreifen, sammeln, anhäufen, schließlich besitzen – skulptural reicht dieser Themenkreis von Maria Chilfs Installation gefundener Geldbörsen über Sabine Groß’ ironische Archive weltverbessernder Manifeste bis zu den „Great See Battles of Wilhelm Schürmann“ von Jason Rhoades, einem riesigen Hochaltar des Alltäglichen.

Von der Hand in den Mund – an diese frühkindliche Erkundungsweise von Umwelt scheint sich Georg Winter durch den allgegenwärtigen Handygebrauch erinnert zu fühlen und hat ein mobiles Gerät für den oralen Konsum entwickelt.

Die menschliche Gestalt als Ganzheit, als statuarisches Gegenüber, begegnet uns in den ebenso präsenten wie überindividuell anonymen Figuren Stephan Balkenhols und den situativ verwickelnden Menschengruppen von Iris Kettner, die sich schockhaft als ausgestopfte Allerweltskleidung entpuppen. Bei Mathilde ter Heijne reicht die Spiegelung der eigenen Erscheinung im Skulpturalen bis zum Doppelgängertum, der beharrlichen und nicht beendbaren Befragung nach dem unverwechselbar Eigenem.

Bei Louise Bourgeois wird die Leibmitte, die geschlechtliche Identität als Lebenskraft oder Problematik, zum Thema fetischartig hervorgehobener Körperzonen oder zellenartiger Erinnerungsräume.

Joseph Beuys führt mit seiner „Jungfrau“ vor Augen, wie viel hochaufgeladene Leiblichkeit hinter aller Spiritualität steckt. Einem sich selbst furchtlos glaubenden Machotum hat Katharina Fritsch mit einigem Augenzwinkern die lebensgroße „Frau mit Hund“ entgegen gestellt, auf den ersten Blick eine vergrößerte Souvenirfigur, auf den zweiten eine entfernte Verwandte der Vagina dentata. Die ebenso rohen wie analytisch feinen Piratenportraits von Paul McCarthy thematisieren Sexualität als Wiederkehr des Verdrängten inmitten übermächtiger Konventionen.

Gesellschaftliche Konventionen und deren Widerpart, die Figur des Außenseiters als Stadtstreicher, Clown oder Künstler, beschäftigen Markus Weber und Michal Budny. Thaddäus Hüppi destilliert aus den Konventionen stadtverschönender Brunnenanlagen und den Konventionen des Comics das Standbild eines unkonventionell fröhlichen Trinkers.

Mit den Fragen im Kopfinneren ergibt sich skulptural der Übergang vom Materiellen zum Immateriellen, vom Beobachteten zum Vorgestellten, zu Modell und Entwurf, zu hypothetischer Architektur wie bei Isa Genzken, zu fantastischen Raumattrappen wie bei Alexej Koschkarow, trickreichen Kartenhäusern von Yuri Avvakumov, zu den aus Malerei geborenen Tischarchitekturen von Dirk Skreber oder den bauhistorischen Reflexionen unterm Fastfoodlogo von Johannes Wohnseifer.

Grenzüberschreitungen Auch die Grenzen und Nachbarschaften des Leibes sind Thema heutiger Skulptur. Die Übergänge vom Körperlichen ins Körperlose wie beim Hören oder Atmen spiegeln sich in Erweiterungen und Überschreitungen heutiger Skulptur, etwa wenn Daniel Hausig seine Installation um die Akustik mobiler Telekommunikation und lichtleitende Baustoffe erweitert, Michael Sailstorfer Kriegsgerät sanft atmen lässt oder wenn Christoph Georgen den Besucher akustisch und räumlich in den Kopf eines Sportlers hinein versetzt. An die biologisch manifeste, dabei dunkle, oft vergessene Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier erinnern die paradox plausiblen, ergreifenden und heiteren Mischwesen von Sandra Munzel, Berlinde de Bruyckere und Martin Städeli.

Als Kreuzung zwischen Ding und Mensch bevölkern alle möglichen Arten von Maschinen unseren Alltag. Richard Jacksons stempelnde Kunstmaschine lässt gar sublimste geistige Akte, die anmutige Anfertigung perfekter Kreiszeichnungen, von einem Automaten ausführen. Benjamin Greber hat seine menschengestaltige Maschine als funktionsfreie Pappattrappe realisiert, was sie um so suggestiver in das Energiefeld unserer Wachträume und Visionen stellt. Die intime Verbindung von Mensch und Maschine beim Autofahren wird in der Installation von Tamara Grcic reflektiert: Autobleche ruhen sanft auf Decken und scheinen zu träumen.

Sportgeräte halten Menschen dazu an, eine Bewegung maschinengleich vielfach zu wiederholen – Körperformatierung, wie sie Zbigniew Libera in vielen seiner Werke untersucht. Eine äußerste Grenze hat Olaf Metzel in der riesigen Halle der Alten Kelter fast beiläufig markiert. Wie ein barockes Memento Mori hängt ein Strick im Gebälk.

PLASTISCHE ARBEITEN VON MEHR ALS 50 KÜNSTLERN WERDEN PRÄSENTIERT. Pawel Althamer, Vladimir Arkhipov, Yuri Avvakumov, Stephan Balkenhol, Joseph Beuys, Louise Bourgeois, Michal Budny / Zbigniew Rogalski, Kirill Chelushkin, Mária Chilf, Berlinde De Bruyckere, Stefan Demary, Peter Fischli & David Weiss, Katharina Fritsch, Twin Gabriel, Iza Genzken, Kristof Georgen, Tamara Grcic, Benjamin Greber, Sabine Groß, Daniel Hausig, Georg Herold, Thaddäus Hüppi, Richard Jackson, Piotr Jaros, Katarzyna Józefowicz, Iris Kettner, Daniel Knorr, Alexej Koschkarow, Jaroslaw Kozakiewicz, Antal Lakner, Zbigniew Libera, Axel Lieber, Rita McBride, Paul McCarthy, Olaf Metzel, Sandra Munzel, Vikentiy Nilin, David Renggli, Jason Rhoades, Michael Sailstorfer, Karin Sander / Harry Walter, Marco Schuler, Sergey Shutov, Dirk Skreber, Monika Sosnowska, Martin Städeli, Mathilde ter Heijne, Paul Thek, Natalia Turnova, Marcus Weber, Where dogs run, Georg Winter, Johannes Wohnseifer, Artur Zmijewski.

Yuri Avvakumov erhielt für sein Werk Fort Aspren 2 (1989) den Ludwig Gies-Preis für Kleinplastik der LETTER Stiftung, Köln. Fort Aspren - ein fragiles Kartenhaus in Form eines Wehrturmes - geht als Dauerleihgabe in die Sammlung der Stadt Fellbach Kleinplastik der Gegenwart über.

only in german

10. Triennale Kleinplastik Fellbach 2007
"BODYCHECK"
Kurator: Matthias Winzen

mit Pawel Althamer, Vladimir Arkhipov, Yuri Avvakumov, Stephan Balkenhol, Joseph Beuys, Louise Bourgeois, Michal Budny / Zbigniew Rogalski, Kirill Chelushkin, Maria Chilf, Berlinde De Bruyckere, Stefan Demary, Fischli / Weiss, Katharina Fritsch, Twin Gabriel, Isa Genzken, Kristof Georgen, Tamara Grcic, Benjamin Greber, Sabine Groß, Daniel Hausig, Georg Herold, Thaddäus Hüppi, Richard Jackson, Piotr Jaros, Katarzyna Jozefowicz, Iris Kettner, Daniel Knorr, Alexej Koschkarow, Jaroslaw Kozakiewicz, Antal Lakner, Zbigniew Libera, Axel Lieber, Rita McBride, Paul McCarthy, Olaf Metzel, Sandra Munzel, Vikentiy Nilin, David Renggli, Jason Rhoades, Michael Sailstorfer, Karin Sander / Harry Walter, Marco Schuler, Sergej Schutow, Dirk Skreber, Monika Sosnowska, Martin Städeli, Mathilde ter Heijne, Paul Thek, Natalia Turnova, Marcus Weber, Where dogs run , Georg Winter, Johannes Wohnseifer, Artur Zmijewski